alzheimer.ch: Seit 2016 gehört Radevormwald zum WHO-Netzwerk der besonders altersfreundlichen Städte. Wieso ausgerechnet diese Kleinstadt mit 22 500 Einwohnern?
Dr. Reinhold Hikl: In Radevormwald liegt der Anteil der über 65-Jährigen bei 25 Prozent, das ist immerhin ein Viertel. Anfang dieses Jahrtausends hat die Stadt an einem Projekt der WHO – «Gesundes und aktives Altern» – teilgenommen.
Seit 2005 kümmert sich der Trägerverein aktiv55plus um eine besonders gute Lebensqualität der Seniorinnen und Senioren. Insofern war es konsequent, dass der Bürgermeister die Mitgliedschaft beim WHO-Netzwerk beantragt hat. Bislang ist Radevormwald die einzige Age-friendly City in Deutschland, aber ich hoffe, dass bald mehr Städte dabei sind.
Was macht Radevormwald besonders altersfreundlich?
Nehmen wir einmal den Bereich Verkehr: Alle wichtigen Strassenübergänge im Stadtkern sind barrierefrei und haben rutschfeste Markierungen. Für Rollstuhlfahrer gibt es Querrillen, die das Bremsen am Strassenrand unterstützen, für Sehbehinderte haben wir ein spezielles Leitsystem.
Es gibt wenige Ampeln, dafür aber viele Verkehrsinseln zum Pausemachen. Mit diesen Massnahmen soll auch das Einkaufen erleichtert werden. Alte Leute, die wenig im Internet shoppen, sind für Geschäftsinhaber eine wichtige Zielgruppe.
Wo können ältere Mitbürger miteinander ins Gespräch kommen?
Auf dem Marktplatz stehen Begegnungshocker zum Klönen. Ausserdem gibt es viele Bänke mit Armlehnen, die das Aufstehen erleichtern. In der Innenstadt haben wir ein generationenverbindendes Haus der Begegnung, zu dem auch ein Bürgercafé gehört.
Darüber hinaus versuchen wir, ältere Menschen ins kulturelle Leben einzubinden.
Wir haben einen Bürgerbus eingerichtet, der regelmässig von den Außenbezirken in den Stadtkern fährt, flexibel nach den Bedürfnissen der Bürger – auch abends, wenn Veranstaltungen in der Stadt stattfinden.
Age-friendly City
Das weltweite Netzwerk für altersfreundliche Städte der Weltgesundheitsorganisation WHO umfasst eine Reihe von Städten und Kommunen. 44 Länder sind derzeit beteiligt. Auf einer Weltkarte findet man die beteiligten Städte und Kommunen.
Die WHO hat eine Checkliste von 82 Kriterien erstellt. Wichtige Bereiche sind Wohnen, Verkehr, öffentlicher Raum, Gesundheitsdienstleistungen, soziale Beteiligung und Integration. Die Kriterien dienen den beteiligten Städten und Kommunen zur Selbsteinschätzung und Dokumentation von Fortschritten.
Die Schweiz ist mit Genf, Bern, Vevey und Lausanne vertreten, Deutschland mit Radevormwald. Österreich ist derzeit noch nicht dabei. In Europa ist Irland Spitzenreiter bei den altersfreundlichen Städten und Kommunen.
Welche Möglichkeiten haben Ältere, die noch fit sind und etwas für die Gemeinschaft tun wollen?
Sie können sich zum Beispiel in unserem Reparaturcafé engagieren, Staubsauger oder Fahrräder reparieren, Kleidung ausbessern. Lehrerinnen im Ruhestand haben die Möglichkeit, ehrenamtlich im Kindergarten vorzulesen.
Auch die Fahrer der Bürgerbusse arbeiten ehrenamtlich und sind meist etwas älter. Sie alle sind froh, ins kommunale Leben eingebunden zu sein …
… damit sie gar nicht erst einsam werden und dadurch marginalisiert sind.
Genau. Eingebunden sein ist ein wesentlicher Faktor zum Gesundbleiben. Es stärkt das Selbstbewusstsein, wenn sich jemand gebraucht fühlt.
Altern ist eben nicht nur ein Defizitmodell, sondern genauso ein Ressourcenmodell.
Auch alte Menschen haben eine Menge Ressourcen. In vielen Heimen oder Arztpraxen wird nur auf die Defizite geschaut. Das finde ich sehr schade.
Die WHO hat eine Liste mit 82 Kriterien für altersfreundliche Städte erstellt. Wie viele davon haben Sie schon bearbeitet?
Rund 60 Prozent. Bei der Bearbeitung der Kriterien handelt es sich um einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess. Wir wollen uns natürlich in allen Bereichen weiter entwickeln.
Was haben Sie als nächstes vor?
Wir haben in Radevormwald einen relativ hohen Anteil an Hochaltrigen, die nicht in Heimen leben. Wir versuchen, sie so lange in ihren Wohnungen zu belassen, wie es geht und das medizinisch vertretbar ist. Deshalb kämpfen wir für mehr zentrumsnahe, barrierefreie Wohnungen.
Ein Problem ist, dass es in vielen älteren Häusern keinen Aufzug gibt. Eine Frau, die auf ihren Rollator angewiesen ist und im fünften Stock wohnt, ist ohne Aufzug wie in Isolationshaft und muss im Prinzip umziehen. Deshalb setzen wir uns verstärkt für die Verbesserung der Wohnsituation älterer Menschen ein.