Absichern ist das oberste Gebot - demenzjournal.com
chatbot

Bürokratie in der Pflege

Absichern ist das oberste Gebot

Die Zunahme aller Tätigkeiten, die nicht direkt beim Bewohner stattfinden, führt zu schlechter Qualität. Das System ist nicht an Qualität interessiert, sondern am Ausbau von Leistungen. Véronique Hoegger

Die Entwicklung der Altenpflege wurde in den letzten Jahren den Bürokratien und Juristen überlassen. Deshalb ist heute der Aufwand weitaus grösser, als er eigentlich sein müsste. Ein Kommentar zu einem System, in dem die Interessen von Kassen, Kontrolleuren und Aktionären wichtiger sind als jene der Menschen, die unseren Schutz brauchen.

Das System fördert Beziehungslosigkeit und Unverbindlichkeit. Beziehung kann nur im direkten Kontakt mit Menschen stattfinden. Professionelle Pflege findet vor allem im Büro statt. Die Ausbildungen zielen darauf ab, möglichst wenig Zeit beim Bewohner zu verbringen.

Die Fragmentierung in einzelne Tätigkeitsbereiche führt zu fragmentierten Erfahrungen und verhindert Ganzheitlichkeit. Die «Dummen ans Bett, die Gescheiten ins Büro» wäre eine realistische Einschätzung dieser Entwicklung.

Schmerzschwester, Wundexpertin, Inkoschwester, Pflegeexpertin: Es wird sehr viel dafür getan, den Einzelnen von all dem zu befreien, was den Alltag spannend machen könnte.

Das führt dazu, dass niemand mehr Verantwortung übernehmen will, dass Absichern das oberste Gebot ist und dass Nichtstun die beste aller Möglichkeiten darstellt. Zu diesem Phänomen gesellt sich jetzt noch die Verrechtlichung des Alltags.

Nach den Schuldigen suchen 

Es kann immer etwas passieren. Und wir wissen, dass Dinge geschehen können, die nicht geschehen sollen. Und dennoch geschehen diese Dinge. Heute darf nichts mehr passieren, die Suche nach Schuldigen beginnt sofort.

Michael Schmieder ist Gründer des Demenzzentrums Sonnweid.Marcus May

Es muss doch jemand verantwortlich sein, sei es im Kindergarten, in der Schule, im Altenheim. Ist tatsächlich immer jemand schuld? Am Unglück verdienen mehrere «Industrien»: der ganze Rechtsapparat, die Bürokraten, die wieder neue noch differenziertere Verbote entwickeln müssen, die Medien usw.

Allein die Regelungen des Brandschutzes zeigen, wie sehr wir in Systemen verhängt sind, wie sehr wir tägliche Einschränkungen in Kauf nehmen müssen, ohne je darauf Einfluss haben zu können, ob solche Regelungen sinnvoll sind, ja, ob sich das noch mit unseren Vorstellungen von Menschenwürde vereinbaren lässt.

Wie anders ist es möglich, dass ganze Korridore entmöbelt werden? Dass im Namen dieser ominösen Brandgefahr technische und bauliche Massnahmen umgesetzt werden müssen, die man nicht einmal denken kann, weil die Phantasie dazu nichts hergibt.

Mit welcher Vehemenz die Dame der kantonalen Heilmittelkontrolle ihre Temperaturfühler in die Medischränke versorgt und mit welcher Freude sie dann mitteilt, dass 25,6 Grad einfach zu viel sei, das muss man erlebt haben.

Und ein Medikament, das über 25 Grad gelagert wurde, darf nicht mehr abgegeben werden. Ja, deshalb sind die in den heissen Ländern auch nie gesund, weil die Medikamente bei 26 Grad nicht mehr wirken. Wir werden an nicht wirksamen Medikamenten zu Grunde gehen, nicht am Klimawandel. Aber wer Macht hat, hat Macht.

Das System fördert schlechte Qualität

Die Zunahme aller Tätigkeiten, die nicht direkt beim Bewohner stattfinden, führt zu schlechter Qualität. Das System ist nicht an Qualität interessiert, sondern am Ausbau von Leistungen, die nichts mit Qualität (Beziehungsqualität) zu tun haben.

Die neuen Qualitätskriterien in der Schweiz zeigen deutlich, dass es wie immer darum geht, das System zu verstehen und dann richtig auszufüllen, und dass es in keiner Weise darum geht, Qualität zu fördern.

Vorauseilender Gehorsam, New Public Management, sinnloser Wettbewerb, Privatisierung des Pflegemarktes, Seniorenimmobilien als Anlageobjekt: All dies hilft mit, eine Parasitenindustrie zu etablieren, der vor allem das eigene Wohl am Herzen liegt.

So geht es einem Pflegekontrolleur der Krankenkassen doch um das Wohl der Kasse und um die Sicherung des eigenen Lohnes – und nicht um das Wohl irgendeines Pflegeempfängers (neudeutsch für «Bewohner»).

Das sich selbst nährende System findet immer neue Wege, sich mit Neuem zu nähren, ob es Sinn macht oder nicht.

Die verschiedenen Controllings sind der Beweis dafür, dass das System nicht funktioniert. Immer mehr Kontrolle führte in all den Jahren nicht zu besserer Leistung, sondern vor allem zur Frage, wie man Kontrolleure zufriedenstellen kann  –  und das geht dann über Formalien und nicht über Inhalte.

Das System fördert Ineffizienz durch Forderung nach Effizienz

Wenn alles danach trachtet, Leistungen effizient zu erbringen, führt das zwangsläufig zu Ineffizienz. Was soll denn Effizienz sein, wenn es darum geht, genügend Zeit einem Menschen zur Verfügung zu stellen? Genaues Erfassen führt zu zusätzlichem Aufwand und zum Erfassen von falschen Kriterien.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

Jetzt spenden

Zeit für angepasstes Essen gegeben, Spaziergang mit Frau M. durch den Garten, Geschichte vorgelesen: Wie soll man effizient eine Geschichte vorlesen? Den Anfang weglassen und schneller lesen (sie vergisst es ja eh wieder)?

Effizienz steigern könnte ja heissen, unnötiges Dokumentieren wegzulassen.

Oder Prozesse im Backoffice zu vereinfachen, weniger Statistiken, keine Kassenkontrollen mehr … Es gäbe da noch einiges.

Das System fördert die freiwillige Preisgabe von Haltung und Zielen

Geld wird mit dem Durchschnitt verdient. Nicht ohne Grund können die grossen Ketten der Pflegeheimindustrie so sehr florieren. Weil sie nichts anderes als Durchschnitt anbieten und anbieten wollen.

Die Gleichmacherei, egal aus welcher Ecke sie kommt, verhindert Exzellenz. Der Benchmark als das Mass der Dinge zeigt ja dieses Streben nach Durchschnitt deutlich auf. Dann spielt es keine Rolle mehr, was man eigentlich will mit einer Institution – Hauptsache billig und nicht auffallen.

Dossier: System Zynismus.

Die Entwicklung des Gesundheitswesens wurde in den letzten Jahren Bürokraten und Juristen überlassen. Deshalb ist heute der Aufwand viel grösser, als er sein müsste. Ständig muss Rechenschaft darüber abgelegt werden, ob die Arbeit die Richtlinien erfüllt. Wurden die Formulare korrekt ausgefüllt? Sind genügend diplomierte Pflegepersonen angestellt? Wie es den Bewohnenden und ihren Angehörigen geht, interessiert niemanden.

Normen erfüllen als das Mass der Dinge. Ob diese Normen den Schwerpunkten entsprechen, die man vertreten möchte, spielt keine Rolle mehr. Normen sind einzuhalten.

Immer mehr Player wollen am System «Versorgung von alten kranken Menschen» teilhaben. Da bleibt für das Eigentliche halt immer weniger übrig. Und alles, was neu kommt, braucht Ressourcen und entwickelt bürokratische Strukturen  –  diese Spirale dreht sich nun immer rascher.

Ob nun Gewerkschaften die Umkleidezeit des Personals vergütet sehen möchten, ob Chefarztlöhne bei 700‘000 Franken im Jahr liegen, ob neue Expertenstandards eingeführt werden sollen: Alles verteuert und fördert die Preisgabe von Haltungen und Zielen.

Wir sind mittelmässig, das aber exzellent: So lautet heute der Glaubenssatz. So wird die elektronische Robbe «Paro» zum Alleinstellungsmerkmal USP – oder das Zug­abteil oder sonst irgendein Quatsch, weil wir uns in unserer Mittelmässigkeit unterbieten müssen.

Das System verteuert sich laufend weil es den Akteuren dauernd sagt, dass es zu teuer ist, weil dauernd irgendjemand an diesem Druck verdient. Weil wir uns als Gesellschaft entsolidarisieren, weil wir dort sparen wollen, wo es am einfachsten geht – bei denen ganz unten.

Weil Krankenkassen Aktionäre bedienen müssen, weil es eine Verquickung von Politik und Kassen gibt, weil jede Anspruchsgruppe nur ihre Partikularinteressen sieht. 

Weil letztlich niemand an einer Lösung interessiert ist  –  denn so wie es jetzt ist, verdienen wenigstens die daran, die an den Entscheidungshebeln sitzen.

Gibt es Lösungen?

Klar ist, dass es verschiedene Ansätze braucht, dass man wenigstens etwas versuchen muss. Die verschiedenen Ressourcenfresser sind kritisch zu hinterfragen, und das System darf nicht selbst entscheiden, was es als nächstes den Betroffenen aufs Auge drückt.

Hier bräuchte es eine Korrekturstelle, sei es bei der Apotheke, beim Brandschutz, bei Personalquoten, bei Qualitätsanforderungen usw. Immer unter dem Aspekt: Wem nützt es? Dann wäre vieles wieder weg.

Man müsste etwas Neues versuchen: Zum Beispiel würde ein einfaches System von Fallpauschalen den ganzen Parasitenstab obsolet machen. Es würde die Heime administrativ entlasten und dafür sorgen, dass Pflegende wieder pflegen können.

Dann hätten wir ein System, welches den Menschen nützt, die uns anvertraut sind. Die Faust in der Hosentasche zu ballen wäre nicht mehr notwendig. Man könnte die Hand stattdessen dazu verwenden, den Menschen durch gute Arbeit Gutes zu tun. Die Expertinnen für Beziehung und wohlwollende Kommunikation wären dann plötzlich wieder gefragt  –  und wie!