Frau M. hat die Ostschleife unter die Füsse genommen. Bei einer Bank, auf der zwei Mitarbeitende ihre Pause verbringen, hält sie inne. Den Gruss der beiden erwidert sie mit einem verlegenen Lächeln. Einen Augenblick später tippelt sie schnell auf den Fussballen davon, bevor sie in einen kindlichen Galopp wechselt. Nach einigen Metern bleibt sie stehen und bückt sich. Sie fährt mit den Handflächen über das Gras am Wegrand und pflückt sorgfältig ein paar Gräser, die sie zu einem Sträusschen formt.
Dann verweilt sie fast eine Stunde lang am Rand einer Blumenrabatte. Sie geht immer wieder in die Knie und lichtet den Bereich zwischen Gras und Rabatte. Immer wieder richtet sie sich auf und kümmert sich um das Sträusschen. Später ergänzt sie es mit braunen Blättern, die es in der Nacht vom Kastanienbaum zwischen die beiden Plastik-Kühe auf der Wiese geweht hat. «Aber es ist schön», sagt sie einem Mitarbeiter, nachdem dieser bemerkt hat, ein so grosser Garten gebe viel Arbeit.
Meist ist es friedlich im Demenzzentrum Sonnweid. Aber manchmal schlägt auch in diesem Umfeld die Bewegung um in Aggression und Gefahr. Fallbeispiele gibt es einige:
Ein Mann, der sich Frauen gegenüber aufdringlich und übergriffig verhält.
Eine Frau, die ihre Betreuenden beissen will.
Ein Mann, der mit grosser Wut auf alles reagiert, was ihm in die Quere kommt.
Eine Frau, die sich mit Schreien und Schlägen gegen die Intimpflege wehrt.
Ein Mann, der rastlos unterwegs ist und damit sich und seine Mitbewohner überfordert.
Meist können diese Probleme gelöst werden. Die Mitarbeitenden verfügen über ein grosses Repertoire wie Aktivierung, validierende Gespräche, beruhigende Aromen, Massagen usw. Falls diese Angebote keine Besserung bringen, können in Absprache mit Ärzten und Angehörigen auch pflanzliche oder pharmazeutische Therapien zum Zuge kommen.
Wenn auch dann keine Besserung eintritt und der Bewohner sich und/oder seine Mitmenschen gefährdet, bleibt als letzter Ausweg die Akutpsychiatrie.
Drei Bewohnerinnen haben ihre Runde durch den Garten fast abgeschlossen. Frau G., die fröhliche Anführerin des Grüppchens, hält inne und beobachtet Frau M., wie sie zwischen den Kühen Blätter und Gräser sammelt. Die zwei Begleiterinnen bleiben unschlüssig stehen. Sie scheinen nicht zu verstehen, warum ihre Anführerin nicht weitergeht. Ihre Blicke suchen nach etwas, während Frau G. auf die Kühe zeigt und sagt: «Die gehen nicht weg. Sie sind schön und leben, auch wenn sie tot sind und nichts fressen.»
Dann geht sie weiter. Ihre Begleiterinnen sind erleichtert. Bald erblicken sie das Wohnhaus am Rand des grossen Gartens. Eine Betreuerin empfängt sie im Entree. Ein Morgenimbiss steht auf dem Tisch. Während die Betreuerin den Begleiterinnen beim A usziehen der Schuhe hilft, sagt Frau G.: «Ich wohne nicht hier. Es ist gut, wenn man abends durch ein anderes Dörfchen gehen kann. Dann winken sie aus den Häusern, und man muss sie nicht extra besuchen.»
Der Begriff «Psychiatrische Klinik» ist negativ besetzt. Für viele Aussenstehende ist es ein Ort, an dem Menschen mit Medikamenten und Fixierungen gefügig und pflegeleicht gemacht werden.
Die Psychiatrie könne schlecht mit Bewegung umgehen, heisst es. «Dies steckt leider noch immer in den Köpfen», sagt Florian Riese, Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK).
«Natürlich gibt es eine Grenze, wenn es um die Gefährdung anderer Patienten und des Personals geht. Wir können unsere eigentliche Arbeit erst beginnen, wenn diese akute Gefährdung behoben ist.»
«Abgesehen davon müssen wir ein gewisses Risiko eingehen. Wir sollen ja das Bestmögliche versuchen und für diese Menschen eine Optimierung erreichen. Es ist keine Optimierung, wenn wir einen unbeweglichen Menschen wieder nach Hause oder ins Heim entlassen. In diesem Fall hätten wir unsere Arbeit schlecht gemacht.»
Frau K. verlässt die Station durchs Wohnzimmer und geht hinaus auf den Kiesweg. Ihre Beine bewegt sie in einem ternären, swingenden Rhythmus. Nach ein paar Schritten erreicht sie das Geländer, das den Weg von einem Teich trennt. Sie streckt ihre Arme nach vorn und greift nach dem Handlauf. Sie umrundet in dieser Haltung mehrmals den Teich.
Beim offenen Holzhäuschen ist das Geländer unterbrochen. Frau K. geht ins Häuschen und setzt sich auf den hintersten, über dem Wasser gelegenen Stuhl. Ihre grossen dunklen Augen sind auf den Teich gerichtet. Gelegentlich dreht sie ihren Kopf langsam in die Richtung eines Bewohners, der den Teich passiert. Nach einer knappen Stunde steht sie auf und geht über die Rampe und einen Seiteneingang zurück auf die Station. Eine Betreuerin nimmt sie im Flur in Empfang. Sie führt Frau K. in den Aufenthaltsraum und bietet ihr eine Tasse Tee an.
«Unser erster Leitgedanke ist das Wohl des Patienten», sagt Florian Riese. «Bei aggressivem Verhalten ist nicht immer einfach herauszufinden, was er selber darunter versteht, weil die demenzerkrankte Person meist nicht Auskunft geben kann.
Aber wenn man gesunde Menschen über ihre Zukunft befragt, sagen sie ganz klar: Die Vorstellung sei furchtbar, einmal aggressiv gegenüber anderen Personen zu werden.
Es liegt also im Kerninteresse aggressiver Patienten, dass wir die anderen Menschen vor ihnen schützen.
Frau B. geht selten in den Garten. Meist geht sie von ihrer Station aus über eine Rampe in den Flur, der ins Haus A mündet. Hier findet sie einen weiteren breiten Flur, in dem viel Betrieb ist. Entlang des Flurs befinden sich das Restaurant, die Küche, der Haupteingang und die Tag/Nacht- Station. Frau B. zweigt selten nach links oder rechts ab, meist geht sie bis zum Ende des Flurs und kehrt wieder um.
Ihren Kopf hat sie leicht nach hinten geneigt, während sie erhaben hin und her streicht. Manchmal wiegt sie ihr Becken nach einer inneren Musik. Die Frage, ob sie gern tanze, erwidert sie mit einem strahlenden Gesicht und dem Griff nach den Händen ihres Gegenübers. Sie sagt: «Nsszibl tsssibl itssszib nsst schisch ssszibl.»
«Das Wohl oder die Lebensqualität eines Menschen mit Demenz zu beurteilen, ist im Kern ein unlösbares Problem, weil sie subjektiv ist», sagt Florian Riese. «Ich leite eine Forschungsgruppe, die sich mit dem Thema ‹Lebensqualität bei Demenz› befasst. Obwohl die Gruppe so heisst, finden wir das Konzept der Bedürfnisse zielführender, weil es pragmatischer umsetzbar ist und weil es bei Bedürfnissen nicht nur die rein subjektiven gibt.
Objektive Bedürfnisse wie Sicherheit, Angstfreiheit, körperliche Integrität oder würdevoller Umgang sind konkreter und auch von anderen Leuten nachvollziehbare Dinge. Solche Bedürfnisse von Menschen mit Demenz versuchen wir mit unseren Therapien zu erfüllen.»