«Schlechte Pflege wird finanziell belohnt» - demenzjournal.com
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Interview mit einem Pflege-Rebellen

«Schlechte Pflege wird finanziell belohnt»

Armin Rieger: «Ich rede nicht von den Pflegekräften in den Krankenhäusern und Pflegeheimen, wenn ich sage, es gibt hier nichts christliches, nichts wohltätiges.» Bild PD

Nach Recherchen des deutschen Heimbetreibers Armin Rieger fliessen Millionengewinne an den Pflegekräften und Pflegebedürftigen vorbei in die Geldbeutel börsenkotierter Pflegekonzerne. Auch die Wohlfahrtsverbände profitieren von den laxen Kontrollen.

alzheimer.ch: Herr Rieger, gibt es aus Ihrer Sicht genügend Anreize für die Umsetzung einer guten Pflege in der stationären Altenhilfe?

Armin Rieger: Leider nein, weil ich mit schlechter Pflege viel Geld verdiene, mit guter wenig. Das jetzige deutsche System ist dazu geeignet, richtig viel zu verdienen – leider nur mit schlechter Pflege. Je höher der Pflegegrad der Bewohner, umso mehr bekomme ich.

Ein Beispiel: Wir hatten eine neue Bewohnerin, die bettlägerig war. Das Essen musste ihr eingegeben werden und wir haben festgestellt, dass sie mit Psychopharmaka vollgepumpt war. Wir haben diese abgesetzt. Die Frau war dann eine der mobilsten überhaupt. Zum Dank ist sie auf Pflegestufe 2 zurückgestuft worden und wir haben weniger Geld bekommen.

In der vollstationären Pflege machte noch bis 2016 eine geringere Einstufung eines Pflegebedürftigen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) von Pflegestufe 3 auf Pflegestufe 2 pro Monat 314 Euro aus – ein Verlust von 3768 Euro für das Haus allein durch die Aktivierung einer Person. Mit der deutschen Pflegereform gibt es seit 2017 fünf Pflegegrade, aber kein Mehr an finanziellen Anreizen für eine aktivierende Pflege.

Wenn ich die Wirtschaftlichkeit im Auge habe, schaue ich, dass ich die Leute eher ins Bett pflege als aktiviere. Es gibt Heime, die wirklich alles machen, um eine menschenwürdige Pflege zu gewährleisten. Aber wenn Sie diese Heimleiter fragen, dann werden sie sagen, bei ihnen gehen die Gewinne gegen Null.

Es wäre schon jetzt genügend Geld in der Pflege vorhanden, im Gesundheitssystem allgemein, damit eine menschenwürdige Pflege, eine ärztliche Versorgung und ein menschenwürdiger Krankenhausaufenthalt möglich wären. Aber man hat ein Wirtschaftssystem daraus gemacht. Somit fliessen die Gelder leider an den pflegebedürftigen Menschen, den Kranken und Pflegenden vorbei.

Sie brauchen nur mal schauen, wer auf dem Pflegemarkt tätig ist: Europäischer Marktführer ist die Korian-Gruppe mit Casa Reha und Curanum [sowie Phönix, Everqueen, Helvetia und Sentivo, Anm. der Autorin].

Sie machen Gewinne, dass es scheppert und haben als Aktiengesellschaft und börsennotiertes Unternehmen den Hauptzweck darin, dass die Aktien an Wert gewinnen und sie an die Aktionäre entsprechende Renditen ausschütten können. Somit ist klar: Hier wird richtig satt Geld verdient.

Um was für Summen geht es?

Die Gewinne sind exorbitant. Die börsenkotierten Unternehmen machen Millionengewinne im zweistelligen Bereich, auf Kosten von Personal, auf Kosten der pflegebedürftigen Menschen, auf Kosten des gesamten Gesundheitssystems.

«Leider lässt es der Staat zu, dass Bilanzen verschleiert und verfälscht werden.»

Armin Rieger

Sie wollten mit Investments in der wachsenden Pflegebranche Gewinne machen, unter anderem waren Sie Investor ins «Haus Marie» (siehe Box). Was hat Sie dazu veranlasst, damit aufzuhören und das Heim zu übernehmen?

Ich hatte zunächst von Pflege keine Ahnung. Erst als die Gewinne im «Haus Marie» ausgeblieben sind und der Ruf phänomenal schlecht war, habe ich mich mit der Thematik direkt befasst und wollte wissen, was schief läuft. Ich hatte das erste Mal Kontakt mit pflegebedürftigen Menschen.

Das hat mir einen Denkanstoss gegeben und einen Wandel in mir ausgelöst. – Man muss sich überlegen, wie man die Gewinne macht und auf wessen Kosten – und wann eine Grenze erreicht ist. Die ist für mich dann erreicht, wenn ich die Menschenwürde praktisch zur Seite legen muss.»

Davon seien die Wohlfahrtsverbände nicht ausgenommen, wie Rieger für sein aktuelles Buch «Der Pflegeaufstand»1 recherchiert hat. An sechster Stelle im Ranking der grössten Pflegeheimträger stehe die Johanniter Seniorenhäuser GmbH. Gegen eines ihrer Tochterunternehmen habe die Staatsanwaltschaft wegen der Beschäftigung von Scheinselbständigen ermittelt, so Rieger. Auch der Umsatz von Caritas und Diakonie werde mit eigenen ausgelagerten Tochterunternehmen auf über 40 Milliarden Euro geschätzt.

Ich rede nicht von den Pflegekräften in den Krankenhäusern und Pflegeheimen, wenn ich sage, es gibt hier nichts Christliches, nichts Wohltätiges. Sie können nicht besser pflegen. Wenn man einem Sebastian Vettel einen Fiat Panda gibt, kann er auch kein Formel Eins-Rennen gewinnen.

Die Pflegekräfte, die garantiert mit viel Empathie in diesen Beruf eingestiegen sind und soziales Engagement haben, können so nicht besser pflegen. Deshalb versuche ich, ihnen begreiflich zu machen wie sie ausgenutzt werden und wie sie sich ausnutzen lassen.

Die Börsianer und diejenigen, die Gewinne machen, sie reiben sich die Hände! Die Pflegekräften verdienen so wenig, weil die Träger satte Gewinne auf Kosten ihrer falschen Loyalität machen, mit der sie dieses eigentlich «kriminelle System» mit unterstützen.

Die Pflegekraft fälscht die Dokumente, trägt Leistungen ein, die nie geleistet werden können, für die der Träger aber wieder Geld bekommt. Sie sind es, die im Nachtdienst 80 Bewohner alleine versorgen. Nach Angaben in der Dokumentation müsste der Nachdienst 24 Stunden dauern.

Wohlfahrtsverbände dürfen meines Wissens überhaupt keine Gewinne machen und doch ist es dort scheinbar nicht anders?

Wohlfahrtsverbände haben den Vorteil, dass sie ihre Zahlen generell nicht veröffentlichen müssen, sie wehren sich mit Händen und Füssen dagegen, was ich schlicht nicht verstehen kann. Wenn sie keine Gewinne machen, was haben sie zu verheimlichen?

Vermutlich wollen sie es nicht, weil sie sonst ihren gemeinnützigen Status verlieren und Steuern zahlen müssten. Caritas, Diakonie und die anderen – warum handeln sie nicht bessere Bedingungen und Gehälter aus? Das können sie doch!

«Ich gehe mit einem fiktiven Personaleinsatz in die Pflegesatzverhandlungen. Da wird dann verhandelt, manchmal wie auf dem Fischmarkt.»

Armin Rieger

Ob ich das Personal auch tatsächlich einsetze und das Geld, das ich für das Personal verhandelt habe, direkt in das Personal investiere oder nicht, das wird nicht mehr kontrolliert.

Wenn ich einen Pflegesatz einmal habe, dann hab ich ihn. Da liegt aber auch die Spanne meines Gewinns: zwischen dem, was ich verhandle und bezahlt bekomme und dem, was ich tatsächlich ausgebe. – Deshalb setzt man Pflegekräfte auch nicht in Gremien. Sie würden etwas anderes fordern. Das schmälert die Gewinne.

Wie weit kann so eine Gewinnmaximierung gehen, bis es zu Konsequenzen kommt?

Man hat es an der [Seniorenresidenz] Schloss Gleusdorf gesehen: Es müssen [fünf Personen, Anm. d. Autorin] zu Tode kommen, bevor etwas passiert. Seit 2000 ist in Bayern nur ein Heim geschlossen worden.

Ich muss es so sagen: Es gehören nicht Heime geschlossen, sondern Personen aus der Pflege entfernt.» Nicht das Heim an sich ist das Problem, sondern die Personen, die das Sagen haben, und nicht nur dulden, dass gewisse Missstände da sind, sondern sie noch aus Gewinnsucht fördern.

Leider gibt es auch Pflegekräfte, die fehl am Platz sind in ihrem Beruf, denen Empathie und soziales Gewissen fehlen oder die sie durch ihre Träger verloren haben und dann sagen, bei uns ist alles Bestens und im nächsten Satz «Bei uns ist auch zu wenig Geld und zu wenig Personal».

Hat Widerstand seitens der Pflegekräfte eine reelle Chance? 

Noch sind es nur wenige, einzelne Pflegekräfte. Und die werden kleingehalten, entlassen oder man macht ihnen das Leben so schwer, dass sie von alleine gehen. Ich kann bis heute nicht begreifen, dass Pflegekräfte von den eigenen Kollegen hinausgemobbt werden.

Der erste Schritt ist, die Pflegekräfte so zu solidarisieren, dass sie sich bewusst sind, wie wertvoll ihre Arbeit ist, was für eine Macht sie eigentlich haben. Man muss sie so weit bringen, dass sie sagen: «Ich weigere mich, die Dokumentation zu fälschen. Ich weigere mich, bei Nacht für 80 Personen allein die Verantwortung zu übernehmen, weil das gefährliche Pflege ist und ich vor Gericht komme, falls etwas passieren sollte.»

Oder indem sie Überlastungsanzeigen schreiben, die sie nicht nur der Heimleitung geben, sondern dem Ministerium und dem MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung), so dass diese später nicht sagen können, sie hätten von nichts gewusst.

Vielen Dank für das Gespräch.

Armin Rieger

Armin Rieger, geboren 1958, war ursprünglich Polizist in Augsburg bevor er 1995 in die Immobilienbranche wechselte. Als Investor des Pflegeheims «Haus Marie» in Augsburg, einer Einrichtung für demenziell veränderte Menschen, übernahm er 2000 auch gleich dessen Geschäftsführung. Rieger war 2002 Mitinitiant des «Augsburger Pflegestammtisch» und dessen Nachfolgeorganisation «Pflegeforum». 2013 verweigerte er den Behörden den «Pflege-TÜV» am Haus Marie.

Im Jahr 2014 reichte er am deutschen Verfassungsgericht eine  Verfassungsbeschwerde wegen «Verletzung der Schutzpflicht des Deutschen Staates gegenüber pflegebedürftigen Menschen durch Untätigkeit und Billigung von Missständen in der stationären Pflege, durch welche die im deutschen Grundgesetz garantierten Grundrechte der Pflegebedürftigen missachtet werden». Die Beschwerde wurde 2015 abgelehnt.


1 Rieger, Armin (2017): Der Pflegeaufstand. Ein Heimleiter entlarvt unser krankes System. Würdige Altenpflege ist machbar, S. 68-71.