Ich hatte mich mit meinen Mitarbeitenden in der Pflegeoase verabredet. Es war die Zeit nach dem Mittag. Einige Bewohnerinnen der Oase waren ein wenig schläfrig. Andere sassen mit uns am Tisch. Herr H., ein Angehöriger, war zu Besuch. Ich hatte die Absicht etwas Fachliches zum Thema Schlafen zu hören. Ich wollte meine Gedanken mit den Mitarbeitenden und Herrn H. abstimmen.

«Haus Eiche»

Das «Haus Eiche» ist Teil des Seniorenzentrums Solingen (Diakonisches Werk Bethanien e.V.) und bietet 80 Plätze für Menschen mit Demenz, sieben davon in der «Pflegeoase». Kennzeichnend für das Haus sind die großzügigen Aufenthaltsräume: Menschen, die ihr Zimmer verlassen, kommen nicht in einen Flur, sondern befinden sich sofort im gemeinsamen Wohnraum. Ein beliebter Aufenthaltsort ist die große Wohnküche. Terrassen und Loggien sowie ein weitläufiger geschützter Garten ermuntern zur Bewegung an der frischen Luft. In dem Haus wird nach einem bedürfnisorientierten Pflege- und Betreuungsansatz gearbeitet. Bewohner werden je nach persönlichen Ressourcen in Alltagsaktivitäten der Wohngruppen einbezogen.

Er erzählt sofort wie er beobachtet, dass seine Frau und auch die anderen Mitbewohnerinnen beruhigter schlafen. Er meint: «Es ist so wie wir das früher bei den Kindern erlebt haben. Sie fühlen sich nicht gestört durch die Anwesenheit anderer Menschen, im Gegenteil, sie sind beruhigt und schlafen ein».

Ohne es zu merken bin ich in meine eigenen Kindheitserinnerungen versetzt. Familienfeiern in einsamen Gehöften, ausgedehnte Wanderungen mit vielen Menschen, Musik in unterschiedlichster Form… Die Abende dieser besonderen Tage waren die schönsten Stunden. Spielen und entdecken bis die  Müdigkeit kommt.

Irgendwo inmitten der vielen Menschen fand ich dann meine Ruhe und meinen Schlaf. In meiner Erinnerung höre ich noch die Textfetzen von Liedern, verschwindende Melodien, besonders laute Worte meines Onkels, oder ich achtete auf eine ungewöhnliche Stimme. Und zwischendurch die Stimmen meiner Eltern und Familie. Bis er dann kam, der Schlaf…

Herr H.besucht seine Frau mehrmals täglich. Er kennt die Pflegeoase seit mehreren Jahren und beobachtet mit wachem Auge das Geschehen. Seine Frau lebte früher in einem Einzelzimmer in Haus Eiche. Ihr Tag/Nacht-Rhythmus war nicht konstant, sondern eher von ständigen Veränderungen geprägt. Besonders in den Schlaf- und Ruhezeiten war Angst das dominante Gefühl.

Irgendwann in der Nacht wachte sie auf, fing an zu sprechen und konnte sich nicht mehr beruhigen. Die Mitarbeitenden der Nachtwache fanden sie dann völlig aufgelöst und erschöpft im ihrem Zimmer vor.

Diesen durchwachten Nächten folgten dann sehr schläfrige Tage. Frau H.’s Ängste sind auch in der Oase vorhanden, doch seit sie dort lebt, hat sich für sie etwas verändert.

Rituale sind wichtig

Frau H. schläft heute anders ein. Sie hat ihr persönliches Ritual und dann gibt es noch eines der Bewohnergruppe. Beide Rituale haben sich entwickelt, beide sind in der Pflegeoase entstanden.

Persönlich ist für Frau H. wichtig, dass ihr Mann sie zu ihrem Bett begleitet bevor er nach Hause geht. Für sie beginnt jetzt die wichtigste Zeit vor dem Einschlafen. Sie erzählt sich etwas, laut brabbelnd, in ihrer eigenen Sprache (eine von Demenz geprägte Konfabulationsvariante).

Im Bett sitzen die Puppe und ihr Teddy. Alles hat seinen Platz. Frau H. spricht mit sich und den beiden, zupft liebevoll an deren Kleidung. Dabei lacht sie manchmal oder wird im Ton energisch. Nach etwa 30 Minuten nimmt sie ihren linken Arm, schiebt sich ihn genüsslich unter den Kopf und beginnt leiser zu erzählen, gähnt und schaut nur noch mit den Augen um sich, bis der Schlaf kommt.

Haus EicheBild PD

Das Ritual der Gruppe ist ein anderes, das parallel stattfindet. Nicht nur Frau H. ist nach dem Mittagessen und zum Abend müde. Auch alle anderen Bewohner und auch die Mitarbeitenden spüren diesen Rhythmus. Die Aktivitäten in der Pflegeoase beruhigen sich, die anderen Bewohner schlafen auch langsam ein. Jeder mit seinem Ritual.

Wie durch ein unsichtbares Zeichen findet die Gruppe eine gemeinsame Ruhezeit. Nicht künstlich organisiert oder sozialisiert. Nein, eher sehr basal empfindend. Eine Dynamik, bei der wir das Gefühl haben ein gemeinsames Empfinden füreinander zu erspüren.

Zu Beginn meiner Recherchen bin ich davon ausgegangen, dass die Bewohnenden überdurchschnittlich viel schlafen. Schließlich sind alle Oasenbewohner von einer weit fortschreitenden Demenz betroffen. In meiner Vorstellung existierte das Empfinden, dass Ruhen und Schlafen eine sehr notwendige Bedürfniserfüllung ist, um die Wachphasen meistern zu können.

Vielleicht ist das viele Schlafen und Ruhen eine sehr aktive Zeit, in der Kräfte gesammelt werden können. Eine Aufgabe, die für das Leben mit einer weit fortgeschrittenen Demenz wichtig sein könnte.

Im Gespräch mit meinen Mitarbeitern und dem Angehörigen erfahre ich zu dieser Hypothese nur geteilte Zustimmung. Meine Mitarbeiter betonen, dass jeder in der Pflegeoase anders schläft und die Bewohner verschiedene Gründe dafür haben.

Da ist beispielsweise Herr T., der seit mehreren Monaten durch einen multiresistenten Keim immer wieder zu Infektionen neigt. Herr T. hat deshalb bereits mehrere medikamentöse Therapien und eine Keimsanierung durchgemacht. Er schläft insgesamt sehr viel und er schläft sehr schnell ein, oft auch tagsüber. 

Frau W. ist mit diversen Hautdefekten zu uns in die Pflegeoase gekommen. Sie braucht sehr viel Zeit und Kraft, diese Lebenssituation zu meistern. Zu ihrem Aktivitätsrhythmus gehören deshalb die notwendigen behandlungspflegerischen Massnahmen wie Verbandswechsel, die regelmäßigen Positionswechsel im Bett und die Umlagerung in den Pflegesessel.

Bild Daniel Kellenberger

Die Beobachtungen der Mitarbeitenden aus dem Tag/Nachtdienst sind identisch. Sie sprechen von einem erschöpfenden Schlafen und Ruhen dieser beiden Bewohner.

Das Nickerchen ist die beliebteste Schlafaktivität der Oasenbewohner am Tag. Wir beobachten dies zu jeder Tageszeit. Oft sind dem Nickerchen irgendwelche Aktivitäten vorausgegangen:

Die morgendliche Körperpflege oder ein validierendes Gespräch, eine Handmassage oder ein Transfer in den Pflegesessel, ein räumlicher Wechsel auf den Balkon oder in die benachbarte Wohngruppe, eine Mahlzeit oder der Besuch von Gästen.

Vertrautheit führt zu Entspannung

Offensichtlich herrscht in der Pflegeoase eine so große Vertrautheit, dass die Bewohner sich für kurze Zeit nach der Aktivitätsphase entspannen können. Sie fühlen sich so sicher, dass sie einschlafen. Dazu tragen neben deren Anwesenheit auch die Geräusche der Anderen bei.

Die Pflegenden sind überzeugt, dass die Bewohner ihre Stimmen kennen und sie damit die vertraute Sicherheit für ein Nickerchen der Oasenbewohner schaffen.

Wohlbefinden bedeutet, sich entspannen können, ein Urvertrauen spüren und dadurch erleben.

Es wurde ein weiterer Aspekt des Einschlafens zwischendurch beobachtet. Frau L. und Frau B. haben die «besten» Plätze. Beide stehen quasi im Zentrum der Pflegeoase. Alle Personen, die die Oase in ihrem Kern betreten, müssen am Bett von Frau L. vorbei.

Das sorgt für Anreize unterschiedlichster Art. Frau L. wird angesprochen und gefragt und bekommt so immer eine besondere Art der Zuwendung und Aufmerksamkeit. Sind die Personen in der Pflegeoase, kann sie alles beobachten.

Ganz ähnlich geht es Frau B.: Sie kann bereits aus der Entfernung erkennen, ob sich jemand der Oase nähert. Zudem kann sie von ihrer Position aus die gesamte Oase überblicken. Diese beiden Damen sind weniger mit einem Schläfchen bedacht als die anderen Bewohner.

Frau F. hingegen hat den ruhigsten Platz in der Oase. Man muss an mindestens zwei Betten vorbei, um zu ihr zu gelangen. Von dort aus kann sie das Geschehen in der Pflegeoase kaum beobachten. Oft schläft sie zwischendurch ein und wenn sie schläft, traut sich niemand sie zu wecken.

Bild Daniel Kellenberger

Wir vermuten, dass sie durch ihren ruhigeren Platz einer grösseren Reizarmut ausgesetzt ist und deshalb auch öfter einschläft. Frau F. ist von ihrer Lebensgeschichte her eher eine Person, die es ruhiger mochte, aber wir bemerken, dass sie wesentlich wacher ist, wenn sie mit den anderen Bewohnern am Tisch in der Oase sitzt. Dort macht sie im Pflegesessel auch ein Nickerchen, allerdings aus einem anderen Grund.

Denken wir ans Schlafen, denken wir meistens an den Nachtschlaf. In einem Interview mit meinen Mitarbeitern der Nachtwache habe ich erstaunlich Normales erfahren. Gemeinsam beginnt die Nachtruhe in der Pflegeoase. Es ist ähnlich wie am Tag. Die Bewohnergruppe erspürt die Zeit der gemeinsamen Ruhe. Etwa eine Stunde dauert dieses zur Ruhe kommen. Der Zeitpunkt ist unterschiedlich. Die Mitarbeitenden berichten, dass die jahreszeitlichen Lichtveränderungen eine entscheidende Rolle spielen.

Dann beginnt die Nachtruhe. Fast alle sieben Bewohner schlafen fest ein

« … wenn ich gegen 22 Uhr in die Oase komme, dann schnarchen sie alle durcheinander, sie schlafen tief!»

Mitarbeiter der Nachtwache

Jeder Bewohner hat seinen eigenen Nachtschlaf-Rhythmus. Manche schlafen in Phasen, andere wachen in den frühen Morgenstunden auf.

Passiert dies und Bewohner fangen an zu sprechen, haben wir beobachtet, dass ein anderer aufgewachter Bewohner in die Unterhaltung leise miteinstimmt. Es dauert nicht lange und beide schlafen wieder fest ein. Das «Gebrabbel» wirkt auch in der Nacht beruhigend.

Eine weitere interessante Beobachtung aus den Nachtstunden: Die notwendigen pflegerischen Massnahmen werden von den Bewohnern in der Pflegeoase nicht als störend wahrgenommen. Grösstenteils schlafen sie dabei und werden nicht wach. Genau umgekehrt erfahren es die Beteiligten in den Wohngruppen ausserhalb der Pflegeoase: Dort ist schon das Betreten des Zimmers eine Unterbrechung des Schlafes.

Schlussfolgerungen

Das Fazit unserer Beobachtungen: Ruhen und Schlafen in der Pflegeoase sind sehr wichtige Aktivitäten. Sie sind meistens geprägt von dem Gefühl des gegenseitigen Vertrauens und der Sicherheit. Es geht dabei um Wohlbefinden. 

Das Erleben dieser Sicherheit und damit des Wohlbefindens ist in der Pflegeoase durch die Anwesenheit der Anderen geprägt.

Rituale sind für uns Menschen wichtig. Wichtig deshalb, weil sie sich aus einem Bedürfnis entwickeln und etablieren. Das betrifft den Einzelnen ebenso wie die Gruppe.

Nickerchen gehören zum Alltag und finden zwischendurch statt. Sie ermöglichen eine kurzfristige und unkomplizierte Entspannung. Wir sollten lernen zu reflektieren unter welchen Umständen diese Entspannung entstanden ist.

Keine Personengruppe in unserem Haus ist in ihrem biologischen Tag/Nacht-Rhythmus so gefestigt wie die Bewohnerinnen der Pflegeoase. Eine selbstverständlichere Nachtruhe wie dort gibt es sonst nirgends im Haus.

Der Angehörige Herr H. sagt dazu: «Offensichtlich ist es den Oasenbewohner gemeinsam mit den Mitarbeitenden gelungen, so etwas wie einen gemeinsamen Lebensraum zu schaffen, vergleichbar mit dem einer Familie, wo man beruhigt schlafen kann.»