Um die Erfahrung und Unterstützung von «Second Victims» zu erfassen, entwickeln das Nationale Kompetenzzentrum für Evidenzbasierte Pflege, Patientensicherheit Schweiz und das Universitätsspital Basel ein quantitatives Fragebogen-Instrument für die Schweiz.
Der nachfolgende Ergebnisbericht basiert weitgehend auf Einzelaussagen der sechs ExpertInnen im Durchschnittsalter von ca. 57 Jahren, welche die Online-Umfrage vollständig beendet haben und sich hälftig mehr oder weniger als zehn Jahre aktiv mit Patientensicherheit beschäftigt haben.
Second Victims
Unerwünschte Ereignisse im medizinischen Behandlungsprozess wirken sich nicht nur auf Patientinnen und Patienten sowie deren Familien (First Victims) aus, sondern auch existenziell auf involvierte Gesundheitsfachpersonen (Second Victims). Die Erfahrungen von Second Victims gehen häufig mit langanhaltenden, emotionalen, gesundheitlichen und beruflichen Belastungen einher. Grosse wahrgenommene persönliche Verantwortlichkeit und Traumatisierung sind dabei bezeichnend. Starke Versagens- und Schuldgefühle sowie Zweifel an der Berufseignung können bis zum Berufsausstieg führen.
«Second Victims» sind traumatisiert
Unerwünschte Ereignisse können im medizinischen Behandlungsprozess nicht nur PatientInnen («First Victims»), sondern auch die mitbeteiligten, auslösenden oder verantwortlichen Gesundheitsfachpersonen wie Pflegefachpersonen und Ärzte («Second Victims») schädigen.
Obwohl wir uns bewusst sein müssen, dass wir irgendwann einen grossen Fehler machen werden, ist das Phänomen ‹Second Victim› bislang zu wenig bekannt.
Die Betroffenheit der «Second Victims» ist nicht nur durch ihre Person, sondern auch durch ihr Umfeld geprägt.
Wie das obige Zitat verdeutlicht, werden «Second Victims» in ihrem Umfeld oft zu wenig wahr- und ernstgenommen, obwohl sie einer bewussten gesundheitlichen, psychologischen und rechtlichen Unterstützung bedürfen. Dabei können KollegInnen und Vorgesetzte mit Zuwendung und Zuspruch eine zentrale Rolle einnehmen.
Reaktionen erfordern Unterstützung
«Second Victims» werden in ihrem Arbeitsumfeld oft als aufgelöst wahrgenommen und reagieren unterschiedlich lange mit z.B. Einbussen im Befinden, veränderten sozialen Kontakten und reduzierter beruflicher Leistungsfähigkeit.
Obwohl eine gewisse Betroffenheit infolge eines unerwünschten Ereignisses auch von Sorgfalt zeugen kann, geht die Betroffenheit von «Second Victims» über eine Alltagsbetroffenheit hinaus und führt zu einer traumatisierenden Erfahrung.
Während Schlaf-, Konzentrations und Appetitstörungen eher zu den physiologischen Reaktionen zählen, zeigen sich auf psychosozialer Ebene nach anfänglichem Schock Merkmale wie Schuld/Scham, Angst/Panik, Nervosität/Unruhe, Wut/Frustration, soziale Isolation und reduziertes Selbstvertrauen.
Folglich stellen «Second Victims» nicht nur ihre Arbeitsumgebung, sondern auch ihre eigene Person infrage.
Von besonderer Relevanz sind die rapid abnehmenden Denk- und Handlungsfähigkeiten von «Second Victims»
«‹Second Victims› werden im gewinnorientierten und funktional ausgerichteten Spitalbetrieb als Betriebsstörung angesehen.»
Dieses Zitat verdeutlicht, dass der lokale Kontext wie der wirtschaftliche Druck den Umgang und die Auswirkungen auf «Second Victims» beeinflussen kann. In ihrem Umfeld möchten sich «Second Victims» mit KollegInnen austauschen und suchen zwecks emotionaler Entlastung nach Erklärungen für das Ereignis.
Obwohl den ExpertInnen zufolge «Second Victims» Unterstützung bedürfen, ist man vielerorts nicht dafür vorbereitet.