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Bürokratie in der Corona-Zeit

Ende März wurde eine Initiative der schweizerischen Heimverbände CURAVIVA und senesuisse zu einer zeitlich beschränkten administrativen Entlastung der Pflegeinstitutionen auf nationaler Ebene gutgeheissen. Véronique Hoegger

Besondere Zeiten erfordern besondere Massnahmen: So darf man die Entlastung von der RAI-/MDS-Beurteilung im Frühjahr 2020 wohl verstehen. Wäre diese besondere Massnahme nicht auch auf Dauer möglich?

Für eine reguläre Pflegebedarfserfassung in normalen Zeiten sieht das System RAI (Resident Assessment Instrument) zwei unterschiedliche Formulare vor, welche für jeden Bewohner jeweils einmal im Verlauf eines Jahres zu bearbeiten sind: die «Gesamtbeurteilung» mit 13, und die «Halbjährliche Zwischenbeurteilung» mit zehn auszufüllenden Seiten.

Als Grundlage dieser Datenerhebung dient jeweils eine zweiwöchige «Beobachtungsperiode», welche sich in eine siebentägige Assessment- und eine gleich lange Dokumentationsphase aufteilt.

Verändert sich der Zustand einer Bewohnerin in der Zeit zwischen zwei ordentlichen Beurteilungen so, dass er zu einer Änderung der Pflegestufe führt, so muss vor Ablauf der üblichen halbjährlichen Frist eine sogenannte «Signifikante Statusveränderung» durchgeführt werden.

An dieses System haben wir uns gewöhnt, wir leben seit vielen Jahren damit. Den erforderlichen Aufwand haben wir aber nie gutgeheissen, weil das primäre Ziel des Systems, die «Abgeltung von krankenversicherungspflichtigen Leistungen in Pflegeheimen gemäss … Krankenversicherungsgesetz» (Administrativvertrag Pflegeheime zwischen CURAVIVA und tarifsuisse ag) auch mit einem viel geringeren Aufwand erreicht werden könnte.

Bei den meisten unserer Bewohnenden sind nur vier bis sieben Einzelinformationen ausreichend, um die geforderte Pflegestufe zu generieren.

Die meisten der restlichen 250 bis 300 erfassten Informationen haben praktisch keinen Einfluss auf die Pflegestufe. Zur Veranschaulichung:

  • Bei zirka 55 Prozent unserer Bewohnenden führen die Angaben zu vier Fragen der Mobilität zur Pflegestufe.
  • Bei zirka 20 Prozent führen die Angaben zu zwei Fragen bezüglich ihrer kognitiven Fähigkeiten und eine Angabe zu unseren spezifischen Massnahmen zur Pflegestufe.
  • Bei zirka 15 Prozent führen die oben genannten sieben Angaben zusammengenommen zur Pflegestufe.
  • Nur in Einzelfällen sind Angaben zu Wunden, speziellen Erkrankungen oder Verhaltensweisen relevant für die Pflegestufe.

Die weiteren Nutzungsmöglichkeiten (Ressourcenplanung, Qualitätsmanagement, Pflegeplanung) der erhobenen Daten sind aus unserer Sicht auf anderen Wegen, beziehungsweise mit anderen Massnahmen, zu verfolgen.

Plötzlich geht es auch anders …

Ende März wurde eine Initiative der schweizerischen Heimverbände CURAVIVA und senesuisse zur administrativen Entlastung der Pflegeinstitutionen auf nationaler Ebene gutgeheissen.

Wir konnten unseren Aufwand für die MDSBeurteilungen (Minimum Data Set) vorübergehend, für die Dauer der «ausserordentlichen Lage», spürbar reduzieren: Nur noch drei Tage Beobachtungs- bzw. Dokumentationszeit und nur noch ein sechsseitiges Formular, welches die zur Bestimmung der Pflegestufe relevanten Angaben enthält. Es geht also: das gleiche Ergebnis – Ermittlung der Pflegestufe – mit deutlich weniger Aufwand.

Nach Ablauf dieser «ausserordentlichen Lage» müssen wir nun wieder die umfangreichen Formulare mit der dazugehörenden zweiwöchigen Beobachtungsperiode anwenden. Mehr Beobachtung und Dokumentation, mehr Formular – für das gleiche Ergebnis: eine Pflegestufe. Warum?

Warum kann die administrative Entlastung, welche in der Corona- Zeit möglich war, nicht auf Dauer beibehalten werden?

Warum müssen wir nun wieder ein System anwenden, das mehr Aufwand mit sich bringt, als für die Erfüllung des primären Ziels notwendig ist?

Warum ist die administrative Entlastung nur in Krisenzeiten möglich, obwohl doch weitgehende Einigkeit darüber besteht, dass es Pflege und Betreuung auch in normalen Zeiten nicht an sinnvollen Aufgaben mangelt?

Solange es zur «Abgeltung der krankenversicherungspflichtigen Leistungen in Pflegeheimen» nötig ist, über ein bestimmtes System eine Pflegestufe zu generieren, sollte dies mit dem denkbar geringsten Aufwand für die Pflegenden möglich sein. Es sollten entsprechend nur die Daten erfasst werden müssen, welche die Grundlage für das Generieren einer Pflegestufe bilden.

Alles andere, was aus Sicht des Erfassungssystems wichtig ist, aber anderen Zwecken dient, sollte nicht zwingend angegeben und dokumentiert werden müssen.

Unser Vorschlag für die Zukunft

Konkret könnte das folgendermassen aussehen: Die bestehenden Formulare und die Beurteilungsintervalle bleiben unverändert. Die Software wird aber dahingehend angepasst, dass sie bei einer MDS-Beurteilung nicht mehr zwingend alle 250 bis 300 Einzelinformationen einfordert, sondern dass sie aus den Informationen, welche im Formular erfasst sind, die Pflegestufe bestimmt.

Somit wäre es jeder Institution freigestellt, in welchem Umfang sie das System nutzen will – nur «Pflicht» (Pflegestufe) oder auch «Kür» (Ressourcenplanung, Qualitätsmanagement, Pflegeplanung – und neu auch Nationale Qualitätsindikatoren)? Jedes Heim könnte die Daten sammeln und ins System einspeisen, welche zur Erreichung seines angestrebten Nutzens nötig sind.

Jedes Heim könnte den administrativen Aufwand, den es für die «Kür»-Elemente leisten will, selbst bestimmen. So könnte ein Aspekt von Wertschätzung aussehen: die Reduktion administrativer Aufgaben auf ein Mass, welches die Einzelinstitution für nötig erachtet.