Das Abhandenkommen der geistigen und kognitiven Fähigkeiten geht einher mit einer Verstärkung von Emotionen – und in nicht wenigen Fällen mit psychischen Begleitstörungen. Bezogen auf ihre Bilderwelt machen die Betroffenen eine ähnliche Entwicklung durch wie ein Kleinkind – nur in umgekehrter Richtung.
Die Bilder faszinieren – obwohl wir keine Motive sehen, die wir schlüssig zuordnen können. Sie enthalten Elemente von Ornamenten, ohne Ornamente zu sein – dazu fehlen ihnen die präzis ausgeführten Wiederholungen. Wir können die Objekte, Formen und Farben nicht klar benennen. Als Bänder könnten wir das deuten, was wir auf zwei Bildserien sehen.
Unsere Fantasie kann uns auf die Sprünge helfen, in den Ausbuchtungen, Kreisen und Schlangenlinien menschenähnliche Figuren zu erkennen. In einer anderen Werkserie sehen wir Wellenlinien in Blau und Lila.
Die Linien verlaufen aber nicht so, dass wir es als Abbild eines Sees oder Meeres deuten würden. In einer weiteren Serie erkennen wir runde, getupfte Formen, die an bunte Troddeln, Blumen oder Feuerwerk erinnern.
Je weniger wir in den Bildern der online-Ausstellung «Heimfinden zu den Urformen» erkennen, desto mehr berühren sie uns. Entstanden sind sie im Malatelier der Sonnweid unter der Leitung von Renate Sulser.
Die Maltherapeutin und Künstlerin aus Wetzikon hat, nachdem sie als Betreuerin Betroffene und Krankheit kennenlernte, eine Methode der Begleitung von Menschen mit Demenz entwickelt, die auf Sensibilität, Achtsamkeit und Wertschätzung basiert. Ohne diese Begleitung würden diese Menschen immer wieder den Faden verlieren.
Bis zum dritten Lebensjahr malen Kinder häufig Spiralen, die von aussen nach innen schwingen. Dann fangen sie an, einen Kreis zu schliessen und mit ihm zu spielen, indem sie ihn zum Beispiel mit weiteren Formen und Strichen auffüllen oder teilen. Aus den anfänglichen Knäueln von Kritzeln entstehen auch Kreuze.
Im Kreuz erlebt das Kind – oder eben der Mensch mit Demenz – das Aufrichten und das Bemühen, das Gleichgewicht zu halten. Das Kreuz steht auch für die Beziehung zwischen innen und aussen und für die Entwicklung der Persönlichkeit. Die eingangs beschriebenen Bänder stellen einen Bezug her zum inneren des Körpers, zur Verdauung, zum Blutkreislauf oder zur DNA.
Es sind archetypische Urformen, die wir auf den Bildern von Menschen mit Demenz sehen. Der Psychologe C. G. Jung schrieb darüber:
«Archetypen sind wie Flussbetten, die das Wasser verlassen hat, die es aber nach unbestimmt langer Zeit wieder auffinden kann. Ein Archetypus ist etwas wie ein alter Stromlauf, in welchem die Wasser lange fliessen und sich tief eingegraben haben. Und je länger sie diese Richtung behielten, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie früher oder später wieder dorthin zurückkehren.»
Wir stehen vor den Bildern dieser Menschen mit Demenz und versuchen sie zu interpretieren. Unsere Deutungen sind immer nur ein Versuch. Es gelingt uns nur, ein paar Teile eines Puzzles, dessen Vollendung unmöglich ist, zusammenzufügen.
So gesehen sind die Bilder Teile eines Bauplans des Universums. Genau wie ein geheimnisvoll gefärbter Algenteppich auf einem See oder wie eine unglaublich schöne Wolke, die gerade vor tiefblauem Himmel über einen Berggrat zieht.
Verbindung zum Jenseits
Menschen haben sich schon immer in Bildern ausgedrückt. Die ältesten Funde von gravierten Platten im Südwesten Frankreichs sind fast 40000 Jahre alt – auch in diesen Werken finden wir die Urformen. Die Wissenschaft deutet die Bilder der Höhlenmaler als Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits, als natürliche Reaktion auf ihre Umwelt, als Festhalten von Erfahrungen und Wissen oder als künstlerischen Ausdruck. Darin finden sich Parallelen zur Bilderwelt von Menschen mit Demenz. Auch sie beschäftigen sich mit der Verbindung zum Jenseits, reagieren malerisch auf ihre Umwelt oder halten – im früheren Stadium der Krankheit – Erinnerungen und frühere Tätigkeiten fest.