«Unser Malen ist frei von kognitiven Ansprüchen» - demenzjournal.com
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Interview

«Unser Malen ist frei von kognitiven Ansprüchen»

Ich frage mich: Mag er malen? Kann er Freude finden am Arbeiten mit den Farben? Ist er traurig, möchte er gar weglaufen? Bild Véronique Hoegger

Renate Sulser betreut seit 1997 begleitetes Ausdrucksmalen im Wetziker Demenzzentrum Sonnweid. alzheimer.ch sprach mit der Künstlerin und Maltherapeutin über ihre Arbeit mit Menschen mit Demenz.

alzheimer.ch: Was passiert in Ihrem Atelier, wenn Sie mit Menschen mit Demenz malen?

Renate Sulser: Die Bewohner kommen in einer kleinen Gruppe. Meist sind es fünf oder sechs. Sie werden alle persönlich begrüsst und herzlich eingeladen. Wir sitzen im Kreis, ein Getränk wird serviert und wir plaudern. Dann werden die Hände mit einer Creme massiert und gelockert. Einfache Qigong-Übungen stimmen den Körper auf das Malen ein.

Danach werden die Malgäste an ihren angestammten Platz begleitet, wo an der Wand vielleicht ein letztmals begonnenes Bild oder ein noch leeres Blatt Papier auf sie wartet. Beim Malen selbst sind die Bewohner dann mehr für sich – und doch malen sie nebeneinander und gehören zu einer Gruppe.

Warum praktizieren Sie zu Beginn diese Rituale?

Man muss sich die Situation vorstellen, in der diese Menschen sind. Die meisten wissen nicht, wo sie sind und weshalb sie zu mir kommen. Manche haben Ängste oder leiden gar an krankheitsbedingten wahnhaften Vorstellungen. Besonders jene, die zum ersten Mal kommen, sind unsicher. Die Rituale geben ihnen Sicherheit und die Gewissheit, dass sie nicht allein sind. Meine Aufgabe ist es, einen gehaltenen Raum zu bieten und dafür zu sorgen, dass die Bewohner in diesen Kreis hineinfinden.

Welche Bewohner kommen zu Ihnen?

Ganz unterschiedliche. Menschen mit Demenz machen wie wir die Dinge, die ihnen entsprechen. Ich gehe ja auch nicht Fussball spielen, weil mir das nicht liegt. Neulich sagte eine Frau, die zum ersten Mal zu mir kam, sie hätte sich nicht vorbereiten können und sei nicht bereit. Ihr Anliegen wurde ernst genommen, meine Mitarbeiterin begleitete sie zurück in ihre Wohngruppe.

Die anfänglichen Qigong-Übungen laden ein, fliessende und archetypische Formen zu malen.Bild PD

Ein Mann mit Parkinsonerkrankung wollte gerne malen und fand sich anfangs gut zurecht, doch dann wurde er unruhig. Seine Hände begannen immer mehr zu zittern und sich zu verkrampfen. Er sagte mir, er fühle sich, wie wenn er einen Wollknäuel im Kopf habe. Wenn die Neugier grösser ist als die Unsicherheit, versuchen wir es ein nächstes Mal wieder.

Es ist sehr individuell. Ich habe noch immer Herzklopfen, wenn ein Bewohner zum ersten Mal kommt. Ich frage mich: Mag er malen? Kann er Freude finden am Arbeiten mit den Farben? Ist er traurig, möchte er gar weglaufen?

Wählen Sie die Teilnehmenden selbst aus?

Nein. Die Mitarbeitenden auf den Stationen kennen das Angebot und wählen Bewohner aus, denen das Malen gut tun könnte. Es sind jeweils zehn bis zwölf Bewohner, die in zwei Gruppen wöchentlich für eine Stunde zu mir kommen. 

Gibt es Bewohner, die speziell «geeignet» sind für diese Form der Aktivität?

Kaum. Der Vorteil an meinem Malen ist, dass es fast frei ist von kognitiven Ansprüchen. Damit ist es auch geeignet für Menschen mit schwerer Demenz. Den einen freut das Malen, andere backen lieber Kuchen oder gehen spazieren.

Worin liegt die lindernde Wirkung des Ausdrucksmalens?

Die Bewohner dürfen in einer Gruppe sein und zur Ruhe kommen. Durch die Einstimmung mit Qigong kommt ihr Körper in Fluss und der Kopf leert sich. Sie nehmen ihren Herzschlag wahr und spüren, dass sie ihren Körper bewohnen. Das Malen selbst löst Erinnerungen und Neugier aus. Aus einem grünen Strich wächst eine Pflanze, es kommen Äste hinzu… Die Bewohner können hier zutiefst schöpferisch sein.

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Greifen Sie oft ein, damit die Bewohnerinnen den Faden nicht verlieren? 

Während des Malens bin ich zu dienend und unterstützend für sie da. Wenn eine Malende fein mit dem Pinsel tüpfelt und ein Muster erschafft, das an hundert Schmetterlinge erinnert, will ich sie natürlich nicht stören. Aber ich zeige ihr, dass ich wahrnehme, was sie macht. Ich reiche ihr die Farbe, suche Augenkontakt. So entsteht ein kostbarer Moment der Einzelbetreuung. 

Ohne Begleitung würden wohl die meisten Bewohner nicht eine Stunde lang «an der Arbeit» sein…

Sie würden aufhören zu malen oder es mit einem trockenen Pinsel versuchen, eben den Faden verlieren. Wichtig ist zum Beispiel, dass Pinsel und Farbe optimal sind. Nichts soll sie hindern in ihrem schöpferischen Sein.

Dies erfordert Sensibilität und Empathie… 

Meine Interventionen haben viel mit Validation zu tun. Eine Frau malt den Bauernhof, auf dem sie aufgewachsen ist. Sie dreht sich zu mir um und sagt: «Es fehlt …». Ich frage: «Wo?». Diese Frage macht eine Tür auf. Wenn ich sie fragen würde, was denn fehle oder warum etwas fehle, würde ich das Gegenteil bewirken.

Die Frau zeigt auf die Stelle, wo das Haus unfertig ist, und ich frage, was noch wichtig wäre. Sie sagt: «Ein Dach.» Ich frage: «Was für ein Dach ist es?» «Eines mit Ziegeln.» «Ich habe ein Siena-Rot, in dieser Farbe werden Ziegel gebrannt.» Ich bringe ihr die Farbe und sage: «Hier ist die Ziegelfarbe.» Auf diese Weise halte ich ihren Faden und erinnere sie ans Dach.

Wie begleiten Sie Menschen mit schwerer Demenz, die nicht mehr reden können?

Wenn jemand nicht mehr redet und auch nicht mehr figurativ malt – was einen nahen Zusammenhang hat – rede ich nicht von Ziegeln oder Blumen, sondern vom «es», vom Unbestimmten, nicht Benannten. Ich muss viel wissen über das Stadium und die Form der Demenz. Aus diesem Wissen heraus kann ich eine solche Stunde begleiten.

Welche Emotionen erleben Sie beim Malen mit Menschen mit Demenz?

Malen kann einen glücklich und stolz machen. Oft hat das, was gemalt wird, viel mit der eigenen Geschichte und dem Daheim zu tun. Daraus können nostalgische Glücksgefühle entstehen.

Es kann aber auch Heimweh auslösen – oder Erinnerungen an Hunger und Leid. Auch dem begegne ich mit Offenheit, lasse meine Teilnahme spürbar werden. So verstehe ich Validation als eine zutiefst menschliche Grundhaltung. 

Wenn ich zum Beispiel sage, dass das Leben früher hart war und dass die Kinder heute mehr spielen können als damals, hilft ihnen das, aus ihrer Not oder Trauer herauszufinden. 

Sie sind selbst Künstlerin. Worin unterscheidet sich Ihre Arbeit als Künstlerin von dem, was Menschen mit Demenz machen?

Ich habe eine bewusste Absicht, ein Bild zu malen, ein Objekt zu gestalten, das ich vielleicht einmal ausstellen will. Das geht bei Menschen mit Demenz nicht mehr. Aber das Suchen, die Unsicherheit, das Ausprobieren und das Glück, im Fluss zu sein, ist bei Menschen mit Demenz dasselbe. Ich frage die Bewohner nie, was sie Malen möchten. Ich frage, was sie brauchen, was für sie wichtig und schön wäre.

Suchen Menschen mit Demenz mehr das Figurative, weil es Ihnen Sicherheit gibt? Anders gefragt: Scheuen sie das Expressive, weil es verunsichern könnte?

Dies hängt stark von der Krankheit ab. Wenn die Demenz noch nicht fortgeschritten ist, kann man sich über die Sprache verständigen, und man kann ein Haus oder einen Baum malen. Wenn die Sprache weg ist, ist auch der bildliche Begriff des Hauses weg, und man kann es nicht mehr malen.

Dies geschieht meist im mittleren Stadium einer Demenz. Diese Menschen können das Thema nicht mehr halten. Darum die anfänglichen Qigong-Übungen: Sie laden ein, fliessende und archetypische Formen zu malen.

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Sie betreuen seit fast 20 Jahren das Ausdruckmalen in der Sonnweid. Haben Sie Ihre Methoden in dieser Zeit verändert?

Am Anfang arbeitete ich auch als Betreuerin, damit ich Menschen mit Demenz und die Krankheit besser verstehen lernte. Seit da ist immer wieder Neues hinzugekommen, der Lernprozess ist nie abgeschlossen. Ich habe zum Beispiel herausgefunden, wie wichtig der geschützte Rahmen ist. Eine Verletzung dieses Rahmens wirkt sich sofort physisch und psychisch aus – auch auf mich. Ich werde unruhig.

Wenn mir die innere Gelassenheit abhanden kommt, passieren Fehler. Neulich habe ich durch die Aussagen eines Bewohners gelernt, welch verheerende Auswirkung seine Parkinson-Erkrankung hat und wie es sich anfühlt.

Sie vermitteln Ihr Wissen in einem Buch und in Weiterbildungskursen von Sonnweid der Campus. Welche Fähigkeiten braucht es bei der Arbeit mit Menschen mit Demenz? 

Viel Selbsterfahrung und theoretisches Wissen sind das Wesentliche dieser Arbeit. Dieses Wissen soll spielerisch in die Praxis integriert werden. Die Teilnehmer meiner Kurse bringen entweder eine Vorbildung in Maltherapie oder in Demenz mit.  

Neuere Studien sagen, dass der Mensch keine Erinnerungen an diese Zeit hat…

Aber wir haben einen Körper und eine Sinneserinnerung. Der Rhythmus des Herzens begleitet uns, bis wir sterben. Er ist nicht übers Gehirn abrufbar, sondern als Lebensrhythmus. Das kann bedeuten, dass jemand rhythmisch tupft beim Malen. Oder, dass er verdaut:

Die Därme können die Lust darauf auslösen, verschlungene Bänder zu malen. Es erstaunt mich nicht, wenn dann auch der Bauch knurrt. Oder wenn jemand summt während des Tüpfelns. Es entsteht ein wohliges Gefühl. Darum geht es mir, nicht ums Kognitive. 

Simon Peng-Keller, Professor für Spiritual Care, sagt, das häufigste Trostbild am Lebensende sei die Mutter. Sehen Sie in den Bildern von Menschen mit schwerer Demenz viele Mutterfiguren?

Ich erlebte eine Bewohnerin, die sagte kurz vor ihrem Tod: „Warte, Mutter, ich komme auch bald.“ Das kann ein Trost sein, muss es aber nicht. Nicht alle Mütter sind gut zu ihren Kindern. 

Nicht wenige Menschen mit Demenz suchen oft nach ihrer Mutter…

Ja, man kommt heim, die Mutter nimmt einem in die Arme und gibt einem zu essen. Solche Bilder geben Orientierung. Je näher der Tod kommt, desto leuchtender und gleichzeitig transparenter können die Bilder werden.

Wenn man gesunde Erwachsene zum Malen ermuntern will, sagen sie meist: «Ich kann das nicht, also lasse ich es bleiben.» Sind Menschen mit Demenz in dieser Beziehung mutiger?

Die meisten Menschen mit Demenz, die noch in der Lage sind zu sehen, wie kindlich sie nun malen, reagieren ähnlich. Sie sagen, sie würden es nicht können, sie werden unzufrieden und traurig. Ich kann diesen Gefühlen etwas entgegensetzen, wenn ich sie unterstützend begleite und das Material sorgfältig aussuche. Wenn sie im späteren Stadium der Krankheit vergessen haben, wer sie einst waren, verlieren sie diese Scheu. 

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Wenn die gnädige Schwelle überschritten ist, haben Menschen mit Demenz keine Ansprüche mehr an sich selbst…

Einen Mann fragte ich einmal, ob es schlimm sei, wenn man nicht mehr der ist, der man einmal gewesen ist. Er sagte, es sei himmeltraurig. Ich unterstützte ihn, indem ich sagte: «Und trotzdem haben sie den Mut, den Pinsel zu nehmen und zu arbeiten.» Dieser Mann nahm sich später dem Thema «Wasser» an. Er merkte, dass ihn das Malen des Wassers in Fluss brachte.

Dies ist die heilsame Wirkung des Malens. Der Mann hatte einen furchtbaren Verlust erlitten, der ihn aber freier und archaischer werden liess. Es ist lindernd, solche Formen zu malen, wenn man den Baum mit den Vögeln nicht mehr malen kann. Es ist ähnlich wie bei Ornamenten: Sie haben kein Gesicht, sie sind einfach schön.

Kann man die Malerei von Menschen mit Demenz mit der Malerei von Kindern vergleichen?

Nein. Menschen mit Demenz sind erwachsen, werden nie mehr Kinder sein. Bei einer Demenz führt der Prozess aber in die umgekehrte Richtung. Bei Kleinkindern beginnt es mit dem Kritzeln oder dem Tupfen. Aus dem Gekritzel kann ein Knäuel oder eine Spirale entstehen.

Mit ungefähr drei Jahren kommt die Absicht, einen Kreis zu schliessen. Die Kinder merken, dass sie mit dem Kreis spielen können, indem sie ihn teilen oder füllen. Dasselbe geschieht mit dem Kreuz. Die Theorie sagt, dass es  dabei um Körpererinnerungen gehe, die bis in die Zeit unserer Entstehung reichen.

Können Sie anhand der Bilder einschätzen, in welchem Stadium der Krankheit sich Malende befinden?

Eine Zeit lang werden die Bilder dichter und reichhaltiger, weil die Malenden vertrauter und sicherer werden und mit ihrer Malerei entspannter umgehen können. Dann nimmt die Demenz zu, die Menschen werden schwächer, die Feinmotorik harzt, und die Bilder werden spärlicher und kleiner. Die Motive fangen an zu kippen und können sich von aussen nach innen einrollen. Kurz vor dem Tod liegen Menschen mit Demenz oft in der embryonalen Haltung. Sie rollen sich ein – genau wie die Formen, die auf ihren Bildern zu sehen sind.


Renate Sulser vermittelt ihr Wissen in ihrem Buch «Ausdrucksmalen für Menschen mit Demenz» (2010, Verlag Hans Huber).