alzheimer.ch: Was passiert in Ihrem Atelier, wenn Sie mit Menschen mit Demenz malen?
Renate Sulser: Die Bewohner kommen in einer kleinen Gruppe. Meist sind es fünf oder sechs. Sie werden alle persönlich begrüsst und herzlich eingeladen. Wir sitzen im Kreis, ein Getränk wird serviert und wir plaudern. Dann werden die Hände mit einer Creme massiert und gelockert. Einfache Qigong-Übungen stimmen den Körper auf das Malen ein.
Danach werden die Malgäste an ihren angestammten Platz begleitet, wo an der Wand vielleicht ein letztmals begonnenes Bild oder ein noch leeres Blatt Papier auf sie wartet. Beim Malen selbst sind die Bewohner dann mehr für sich – und doch malen sie nebeneinander und gehören zu einer Gruppe.
Warum praktizieren Sie zu Beginn diese Rituale?
Man muss sich die Situation vorstellen, in der diese Menschen sind. Die meisten wissen nicht, wo sie sind und weshalb sie zu mir kommen. Manche haben Ängste oder leiden gar an krankheitsbedingten wahnhaften Vorstellungen. Besonders jene, die zum ersten Mal kommen, sind unsicher. Die Rituale geben ihnen Sicherheit und die Gewissheit, dass sie nicht allein sind. Meine Aufgabe ist es, einen gehaltenen Raum zu bieten und dafür zu sorgen, dass die Bewohner in diesen Kreis hineinfinden.
Welche Bewohner kommen zu Ihnen?
Ganz unterschiedliche. Menschen mit Demenz machen wie wir die Dinge, die ihnen entsprechen. Ich gehe ja auch nicht Fussball spielen, weil mir das nicht liegt. Neulich sagte eine Frau, die zum ersten Mal zu mir kam, sie hätte sich nicht vorbereiten können und sei nicht bereit. Ihr Anliegen wurde ernst genommen, meine Mitarbeiterin begleitete sie zurück in ihre Wohngruppe.
Ein Mann mit Parkinsonerkrankung wollte gerne malen und fand sich anfangs gut zurecht, doch dann wurde er unruhig. Seine Hände begannen immer mehr zu zittern und sich zu verkrampfen. Er sagte mir, er fühle sich, wie wenn er einen Wollknäuel im Kopf habe. Wenn die Neugier grösser ist als die Unsicherheit, versuchen wir es ein nächstes Mal wieder.
Es ist sehr individuell. Ich habe noch immer Herzklopfen, wenn ein Bewohner zum ersten Mal kommt. Ich frage mich: Mag er malen? Kann er Freude finden am Arbeiten mit den Farben? Ist er traurig, möchte er gar weglaufen?
Wählen Sie die Teilnehmenden selbst aus?
Nein. Die Mitarbeitenden auf den Stationen kennen das Angebot und wählen Bewohner aus, denen das Malen gut tun könnte. Es sind jeweils zehn bis zwölf Bewohner, die in zwei Gruppen wöchentlich für eine Stunde zu mir kommen.
Gibt es Bewohner, die speziell «geeignet» sind für diese Form der Aktivität?
Kaum. Der Vorteil an meinem Malen ist, dass es fast frei ist von kognitiven Ansprüchen. Damit ist es auch geeignet für Menschen mit schwerer Demenz. Den einen freut das Malen, andere backen lieber Kuchen oder gehen spazieren.
Worin liegt die lindernde Wirkung des Ausdrucksmalens?
Die Bewohner dürfen in einer Gruppe sein und zur Ruhe kommen. Durch die Einstimmung mit Qigong kommt ihr Körper in Fluss und der Kopf leert sich. Sie nehmen ihren Herzschlag wahr und spüren, dass sie ihren Körper bewohnen. Das Malen selbst löst Erinnerungen und Neugier aus. Aus einem grünen Strich wächst eine Pflanze, es kommen Äste hinzu… Die Bewohner können hier zutiefst schöpferisch sein.