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Alzheimer-Forschung

«Die Komplexität der Materie ist unterschätzt worden»

Professor Dr. med. Reto W. Kressig, Klinische Professur für Geriatrie, Universität Basel; Ärztlicher Direktor Universitäre Altersmedizin Basel, Felix Platter-Spital. Bild PD

Der Basler Gerontologe Reto Kressig berichtet über den Stand der aktuellen Demenzforschung. Obwohl er im Interview ein nüchternes Bild zeichnet, sieht er durchaus Hoffnungen und Perspektiven.

alzheimer.ch: Professor Kressig, weshalb haben gewisse Pharma-Multis die Forschung nach einer medikamentösen Alzheimer-Therapie aufgegeben?

Reto Kressig: Ich sehe zwar nicht hinter die Kulissen dieser Unternehmen, aber ich weiss, dass sie unglaublich viel investiert haben, über Jahre und Jahrzehnte hinweg, ohne dass ein zählbares Resultat herausgeschaut hat. Kein Return of Investment also, es gibt für sie nichts zu verkaufen.

Sind das Anzeichen einer Resignation?

Nein, das glaube ich nicht, es ist eher eine Ernüchterung. Die Komplexität der Materie ist unterschätzt worden.

Wenn man über Jahre hinweg in einen Forschungsschwerpunkt investiert und es innert nützlicher Frist und mit vertretbarem Aufwand nicht gelingt eine Richtung einzuschlagen, die in ein Produkt mündet, das vermarktet werden kann, muss man über die Bücher.

Dieser Rückzug gewisser Firmen ist nicht endgültig, sie beobachten den Markt weiterhin, überlassen das Feld aber anderen, vor allem jungen Start-Ups, die kostengünstig Neuentwicklungen machen können. Bei guten Erfolgsaussichten werden sich die Grossen die Kleinen einfach einverleiben.

Das läuft heute leider so. Was man hier noch ergänzen muss: Für die Demenzforschung wurde in den letzten Jahrzehnten nie wirklich das ganz grosse Geld in die Hand genommen, am meisten ist in die Krebs- und HIV-Forschung investiert worden.

Waren Beta-Amyloide und Tau Proteine der falsche Ansatz?

Nein, das kann man so nicht sagen. Fortschritte in den Bildgebungsverfahren ermöglichen heute ein tieferes Vordringen in die Materie. Neue Wirkstoffe sollen nicht mehr die Amyloid-Plaques angreifen, sondern die Substanzen, aus welchen die Plaques gebildet werden.

Und ebenso wichtig: Die neuen Verfahren, die sehr aufwendig und komplex sind, ermöglichen eine In-Vivo-Diagnose. Bei den aktuellen Beta-Amyloid- wie auch Tau Protein-Studien wissen wir deshalb mit Bestimmtheit, dass die Probanden tatsächlich davon betroffen sind, die Ablagerungen können heute am lebenden Organismus erkannt werden.

So stellt man sicher, dass nur Probanden in die Studie eingeschlossen werden, die wirklich Amyloid im Hirn haben. Man geht davon aus, dass in früheren Studien zu viele Probanden ohne Plaques eingeschlossen waren. Dadurch wurde der Therapie-Effekt verwaschen.

Und Ihre persönliche Ansicht?

Ich bin ein Kliniker und letztendlich sehr pragmatisch. Ich bin selbst an solchen Forschungsprotokollen beteiligt und beschäftige mich seit Jahren, bald Jahrzehnten mit diesem Thema.

Ich glaube, wenn das Beta-Amyloid wirklich das Problem ist, hätten wir auch bei den Vorstudien ein Signal gehabt.

Dieses Signal war bei den grossen Studien nicht vorhanden. Mit dieser neuen, verfeinerten Herangehensweise werden wir möglicherweise ein Signal erhalten, ein Ansprechen – aber es wird nicht die Lösung des Problems sein.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass man nach diesen negativen Vorstudien jetzt plötzlich eine derart starke Wirkung erzielen wird – die Problematik ist viel zu komplex.

Dennoch sprechen Sie am St. Galler Demenzkongress über ‘Hoffnungen und Perspektiven’.

Die es durchaus gibt. Ich werde zuerst auf die Tau Proteine eingehen, bei denen die Forschung von den gleichen Weiterentwicklungen profitiert hat, wie bei den Amyloiden. Die Diagnostik ist ähnlich, es geht ebenfalls um das Feststellen von Ablagerungen im Hirn. Dennoch glaube ich, dass man bei den Tau-Proteinen in Zukunft ein stärkeres Signal erwarten kann.

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Warum?

Weil der Gehalt dieser Proteine im Hirn sehr gut mit der tatsächlichen kognitiven Beeinträchtigung übereinstimmt. Dies im Gegensatz zu den Amyloiden, deren Menge mit der kognitiven Performance sehr schlecht korreliert.

Das hat mich eigentlich immer irritiert, ich möchte hier auf die berühmte amerikanische Nonnenstudie verweisen. Wie gesagt, beim Tau ist das anders. Je mehr Tau man vorfindet im Hirn, desto schlechter ist die Hirnfunktion.

Und hier ist meine Hoffnung: Wenn die Studie zu Tau Proteinen in Phase 3 kommt, das sollte Ende nächsten Jahres der Fall sein, können vielversprechende Resultate erwartet werden. Dennoch: Das ist alles hochkompliziert und das Aufstellen solcher Studien wird immer anspruchsvoller.

Was wird denn heute anders gemacht als vor zehn Jahren?

Wie erwähnt, werden für solche Studien immer mehr Probanden avisiert, bei denen die Krankheit noch gar nicht ausgebrochen ist.

Da stellen sich auch ethische Fragen: Wie behandelt man Menschen mit einem Medikament mit Nebenwirkungen, bei denen sich noch gar keine Symptome zeigen?

Da ist man nun dran und deshalb bin ich vorsichtig optimistisch eingestellt.

Was ich in meinem Referat ebenfalls positiv ansprechen werde, ist die Verwendung von kardio-vaskulären Medikamenten, respektive die konsequente Behandlung von vaskulären Risikofaktoren. Es zeigte sich, dass eine solche Behandlung, gemeinsam mit einer konsequenten Veränderung des Lebensstils, die Kognition bei Hochrisikopatienten, die noch nicht dement sind, stark verbessert hat.

Die hochinteressante finnische Fingerstudie zeigt auf, dass viele Faktoren dieser Krankheit von einem gesunden Lebensstil abhängen. Wir können also – allein durch unsere Lebensweise – selbst Einfluss darauf nehmen, wie sich die Krankheit entwickelt. Das ist sicher eine positive Erkenntnis.

Sie werden also am Demenzkongress nicht erzählen, dass es in ein paar Jahren nichts mehr zu pflegen gibt, weil die Krankheit dannzumal besiegt sein wird?

(er lacht) Nein, ich möchte dem Publikum aufzeigen, was im Moment läuft und diejenigen Perspektiven zeichnen, die mich verhalten positiv stimmen. Ich werde auch auf die heutigen, uns bereits zur Verfügung stehenden Medikamente eingehen.

In dieser Hinsicht herrscht in der Schweiz eine grosse Zurückhaltung. Viele Hausärzte verschreiben diese Medikamente nicht, weil sie angeblich wirkungslos sind, was einfach nicht stimmt. Die heutigen symptomatischen Therapien, gerade in Kombination mit einer guten Pflege und Betreuung, und dem Bestreben, Betroffene so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden zu halten, entfalten eine massgebliche Wirkung.

Diese Therapien haben aber auch Nebenwirkungen.

Die Nebenwirkungen sind relativ einfach zu kontrollieren. Es ist wie bei allen Medikamenten: Der Gewinn an Lebensqualität sollte überwiegen. Und der Benefit dieser symptomatischen Therapien ist messbar: Man bleibt länger selbständig, zeigt länger keine Verhaltensauffälligkeiten und der Betreuungsaufwand bleibt geringer.

Trotz gemeinsamer Studien mit Gesundheitsökonomen verhallen diese positiven Aspekte beim Bundesamt für Gesundheit ungehört.

Was keine nachweisliche Heilung bringt, wird als zu wenig wirksam eingestuft, um kassenpflichtig zu werden. Das ist eines der Probleme im heutigen Gesundheitswesen, die Kosten werden immer den anderen auferlegt.

Aber es gibt doch eine Nationale Demenzstrategie?

Ehrlich gesagt bin ich nicht wirklich beeindruckt davon. Ich war zwar von Beginn weg dabei, doch hat sich verhältnismässig wenig getan, vor allem hinsichtlich der eingesetzten Gelder. Ganz im Gegensatz zur Palliative-Strategie, bei der viel mehr investiert wurde und die Resultate entsprechend gut sind.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Bei der Nationalen Demenzstrategie wurde vieles an die Kantone und die Gesundheitsdirektoren-Konferenz delegiert, die Umsetzung ist Sache der Kantone und Gemeinden. Hier im Kanton Basel-Stadt können wir uns in dieser Hinsicht noch relativ glücklich schätzen, da läuft doch einiges.

Vielen Dank für das Gespräch.


Professor Dr. med. Reto W. Kressig, Klinische Professur für Geriatrie, Universität Basel; Ärztlicher Direktor Universitäre Altersmedizin Basel, Felix Platter-Spital.