Sehr geehrter Herr Spahn
Manchmal sieht man aus der Ferne die Dinge anders als aus der Nähe. Immer wieder geht mein Blick aus der Schweiz nach Deutschland. Zum einen, weil wir mit der Plattform www.alzheimer.ch in Deutschland sehr viele Menschen ansprechen.
Zum anderen habe ich als Doppelbürger die alte Heimat im Bewusstsein und bin mir meiner Wurzeln bewusst. Ich habe mich über 30 Jahre der Thematik «stationäre Versorgung von Menschen mit Demenz» verschrieben und die Sonnweid als eine der grossen Institutionen für Menschen mit Demenz entwickelt. Ich kenne die Systeme in Deutschland und in der Schweiz und möchte zur aufgeheizten Pflegedebatte ein paar Gedanken äussern.
Mit Ihrer Berufung zum Bundesminister für Gesundheit wurden Sie sichtbarer Kopf eines Ministeriums, welches in den nächsten Jahren mehrere Herkulesaufgaben zu bewältigen hat.
Die Berichte aus Pflegeinstitutionen sind nicht ermutigend, es fehlt an allen Ecken und Enden.
Die Reaktionen dazu aus der Praxis werden sie wohl ernüchtern: Ihre Massnahmen seien ein Tropfen auf den heissen Stein, heisst es. 13’000 neue Pflegestellen würden bei weitem nicht ausreichen. Ausserdem sei kein qualifiziertes Personal da, um die Lücken zu füllen.
Was immer Sie auch tun: Es wird von aussen gesehen kein schneller Erfolg sichtbar sein. Zu viele Akteure sind beteiligt und jeder weiss, wie es besser geht – ich übrigens auch.
Neben den Massnahmen, welche direkt und rasch wirken müssen, werden die längerfristigen Entscheide das System Altenpflege grundsätzlich stark verändern. In welche Richtung müssen diese Entscheide wirken?
Mit der Ökonomisierung der Alters- und Pflegearbeit wurden Player auf den Platz gerufen, denen es ausschliesslich darum geht, eine (zu) hohe Rendite zu erzielen. Die Moralität ist abhandengekommen, ebenso das Bewusstsein, was noch gehen darf und wo die Grenzen sind. Eingesetztes Geld soll vermehrt werden, das ist die Devise.
Nun ist zu erkennen, dass es Bereiche gibt, in denen dieser Grundsatz den betroffenen Menschen direkt Schaden zufügt. Das darf nicht sein. Sie denken ja bereits über Einschränkungen nach, was innerhalb des bestehenden Systems jedoch sehr schwer werden dürfte. Aber es ist ein richtiger Ansatz.
Es braucht keine neuen Bürokratien, sondern eine Reduktion des Qualitäts- und Normenfetischismus.
Hätten diese Überwachungspraktiken nur minimal funktioniert, würden sich die zahllosen Berichte von unwürdiger, ja unmenschlicher Pflege nicht so häufen wie in der jüngeren Vergangenheit. Funktionierende Systeme sind von den Menschen abhängig, die dort arbeiten.
Die Parasitenindustrie der Qualitätsmanagement-Firmen, Auditgesellschaften und Prüfbehörden dienen einzig dazu, sich am grossen Finanztopf bedienen zu können. Diese Parasitenindustrie verhindert gute Pflege, sie verbraucht Ressourcen, die den Menschen, die in der Pflege arbeiten, beim Kranken fehlen.
Der Beweis ist schon lange erbracht, dass der Ansatz «mehr Kontrolle gleich bessere Versorgung» keine Verbesserungen gebracht hat.