alzheimer.ch: Herr Wißmann, Sie kritisieren viel. Was unternehmen Sie konkret gegen die Missstände, die Sie anprangern?
Peter Wißmann: Irgendwann kam der Begriff Demenz auf und alle fingen an, darüber zu reden. Die Psychiater, die Psychologen und Neurologen, die Angehörigen, … aber niemand sprach mit den Betroffenen selbst.
2010 haben wir in Stuttgart eine Veranstaltung unter dem Titel «Stimmig» durchgeführt. Das war ein entscheidender Aufschlag. Auf dem Podium waren Demenzkranke, die seit zehn oder zwölf Jahren mit einer Diagnose lebten. Sie erzählten von sich, und nicht wir über sie. Damit begann eine neue Ära.
Aber das waren doch nur solche, die noch einigermassen fit waren?
Davon gibt es hunderttausende. Demenz ist ein breiter Begriff, es gibt hundert Formen, Alzheimer ist die häufigste. Sie kennen einen Alzheimerkranken? Damit kennen Sie jedoch nur einen von vielen. Es sind ja nicht nur die Personen, die orientierungslos durchs Pflegeheim irren und nach ihrer Mutter rufen.
Peter Wißmann
Der 61-Jährige leitet seit zwölf Jahren den Demenz-Support Stuttgart, in seinem Team arbeiten 18 Leute. Ihre Aufgabe: Unterstützung für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und ihre Angehörigen, bundesweit. Dabei soll es um Selbstbestimmung, Teilhabe und Lebensqualität gehen. Das Team entwickelt Projekte, publiziert Bücher und Broschüren, organisiert Veranstaltungen, Fortbildungen, Tagungen und kümmert sich um den Informationstransfer zwischen Theorie-Experten und Praktikern.
In seinem neuen Buch «Nebelwelten» wettert Wißmann gegen den «Therapiewahn» und fordert mehr Normalität im Umgang mit demenzkranken Menschen. Heime würden wie Trabanten-Siedlungen an den Stadtrand verlegt, Inklusion finde nicht statt. Alte Menschen würden pathologisiert. Sein nächstes Referat zum Thema hält Peter Wißmann am 15. November am St.Galler Demenzkongress.
Was haben Sie in den Gesprächen mit Betroffenen herausgefunden?
Zum Beispiel, was sie brauchen, wenn sie ihre Diagnose bekommen. Bisher kriegen sie nur gesagt, wie das Versorgungssystem geht, die Pflegeversicherung, die Tagespflege und so weiter.
Und was brauchen diese Menschen wirklich?
Jemanden, der ihnen hilft, ihr neues Leben zu erklären, weil die Diagnose alles radikal verändert. Das kann ein Sozialarbeiter sein, der fragt: Wovor haben Sie Angst? Wo brauchen Sie Unterstützung? Ich begleite Sie. In Schweden gibt es das, in Deutschland, Österreich und in der Schweiz nicht.
Sie fordern, dass Demenzkranke am öffentlichen Leben teilhaben. In Deutschland waren im September die Bundestagswahlen. Sollen diese Menschen wählen dürfen?
Ja, sie sollen wählen, Auto fahren, ihr Leben weiterführen, solange es in Ordnung ist. Denn das ist das Schlimme für Menschen, die eine Diagnose bekommen: Sie werden degradiert, fallen aus der Welt raus. Aus dem Beruf, dem Sport, dem Radfahren und dem Kulturangebot. Menschen mit Demenz wissen sehr wohl, wann sie den Führerschein abgeben sollten.
Setzen sich die grossen Parteien für Angehöre und Pflegende beim Thema Demenz ein?
Wenn wir das Thema verengen auf Pflegeleistungen, -versorgung und -versicherung, ziehen sie noch mit. Aber die Situation in der institutionellen Pflege ist ernst und manchmal katastrophal. Deshalb hat man schon vor Jahren Instrumente wie die Pflegenoten eingeführt. Bloss – das gut Gemeinte ist kontraproduktiv und wird trotzdem am Leben erhalten.
Gute Noten für gute Heime sind doch in Ordnung, oder?
Nein, die sind Unfug und besagen gar nichts. Die Pflegeheime in Deutschland haben einen Notendurchschnitt von 1,3. Sie schneiden alle gut ab wegen Formalien, wie der, dass der Menüplan aushängt.
Es ist möglich, dass in Heimen, welche die Pflegenote eins erhalten haben, Menschenrechte massiv verletzt werden.
Im Ernst? Haben Sie das gesehen?
Oft. Da werden Menschen mit Bewegungsdrang auf schweren Stühlen an den Tisch geschoben und sitzen so eingeklemmt, damit sie nicht aufstehen können. Das ist Fixierung ohne Gurte. Und es gibt Schlimmeres.
Pflegekritiker Claus Fussek kann ein Lied davon singen: Die Menschen werden gefesselt, mit Psychopharmaka ruhig gestellt und mit Magensonden ernährt. Obwohl sie noch alleine essen könnten. Sie bekommen Windeln verpasst, obwohl sie zur Toilette könnten.
Wie findet man eine gutes Heim?
Ich würde als Angehöriger hingehen und schauen: Wie werde ich empfangen? Wie ist der Umgangston dort? Wie riecht es? Wie schmeckt das Essen? Kann ich mal einen halben Tag in der Cafeteria sitzen?
Sollte die Politik nicht alles Geld in die Forschung stecken, damit endlich ein Medikament gegen Alzheimer gefunden wird?
Medizin und Pharmaforschung verkünden regelmässig, dass sie kurz vor dem Durchbruch stünden, dabei treten wir seit vierzig Jahren auf der Stelle. Es gibt keine einzige klinische Studie, die Erfolg gebracht hätte. Das ist alles Augenwischerei und kostet ein Vermögen, das bezahlt wird, weil alle Angst haben vor der «Pest des 21. Jahrhunderts».
Würden Sie Ihr kaputtes Auto jeden Monat für viel Geld in dieselbe Werkstatt bringen, obwohl der KfZ-Meister bei der Frage nach der Ursache des Schadens nur mit den Schultern zuckt?
Kann man gar nichts tun?
Warum definieren wir eigentlich das Altern des Gehirns als Krankheit? Gesund leben, das kann man tun. Frische Luft, neugierig bleiben, soziale Kontakte haben, sich vernünftig ernähren. Das hilft gegen Rheuma, Herz- und Lungenkrankheiten und es hilft, kognitiv fit zu bleiben.
Es gibt wirklich keine Therapie?
Keine mit Tabletten oder Spritzen. Was ich kritisiere: jeder Blödsinn wird zur Therapie erklärt. Vorlesen ist Poesie-Therapie, und wenn der Praktikant Gitarre spielt, ist das Musiktherapie, wenn man raus geht, ist das Gartentherapie, und wenn die Pflegedienstleiterin ihren Dackel mitbringt, ist das tiergestützte Therapie. Falls der Demente lacht, ist es auch noch Humor-Therapie.