Als die Nachtwache vor ein paar Monaten im Zimmer von Fanny Elsner das Licht anmachte, bot sich ihr ein schreckliches Bild: Die Frau und ihr Bett waren voller Blut. Der eine Zeigefinger steckte im Mund, eingeklemmt zwischen den mahlenden Zähnen. Den anderen Zeigefinger hatte sie fast abgebissen. Fetzen von Fleisch und Haut hingen an den blanken Knochen. Die Nachtwache hatte grosse Mühe, Elsners noch im Mund steckenden Finger freizubekommen. Weil Elsner blutgerinnungshemmende Medikamente bekam, hatte sie viel Blut verloren.

Der Notfalldienst brachte sie ins Spital, wo man zuerst befürchtete, einen der beiden Finger amputieren zu müssen. Schliesslich konnten die Ärzte die Wunden reinigen und zunähen. Elsner kehrte nach einer Woche zurück in die Sonnweid. Es galt sicherzustellen, dass sich die Bewohnerin kein zweites Mal verletzen würde. Ihre Biografie bot kaum Anhaltspunkte.


Bevor Fanny Elsner an Parkinson, Alzheimer und an einer damit verbundenen Depression erkrankte, war sie eine zuverlässige und glückliche, keinesfalls «verbissene» Frau gewesen. Sie lebte mit ihrem Mann und den beiden Töchtern auf einem Anwesen mit Pferdestallungen. Sie besorgte die Administration im Planungsbüro ihres Mannes.

Ihre Leidenschaft waren die Pferde. Ihr Vater war Züchter und Trainer, und so betreute sie ihr Leben lang eigene Pferde. Täglich ritt sie mit ihnen aus und arbeitete im Stall. Nachdem ihre Vergesslichkeit zugenommen hatte, mussten die Pferde weggegeben werden. Von da an sei sie noch mehr als vorher zwischen Wohnhaus und Stallungen unterwegs gewesen, berichtet ihr Ehemann. In grosser Hektik sei sie mit ihrem Irish Setter im Schlepptau hin- und hergependelt.


Stets unterwegs oder auf Zehenspitzen

Als Elsner anfangs tageweise in der Sonnweid betreut wurde, zeigte sie eine stete Rastlosigkeit. «Frau Elsner fiel mir von Anfang an auf, obwohl ich in einer anderen Abteilung arbeitete», sagt eine Betreuerin. «Wie eine Balletttänzerin rannte sie ein paar Schritte auf ihren Zehenspitzen, blieb dann einen Moment stehen, rannte wieder los und blieb wieder stehen.»

Elsner fiel auch mit anderen eigentümlichen Verhaltensweisen auf. Berührungen ihrer Mitmenschen suchte sie nicht mit den Händen, sondern mit Lippen, Zunge und Zähnen. Gegenstände befühlte sie mit der Zunge oder nahm sie in den Mund. Offenbar empfand sie mit diesen Körperteilen mehr als mit den Händen.

«Wenn man sie aus dem Bett nahm, musste man aufpassen, dass sie einem nicht biss oder mit der Zunge abschleckte.»

Betreuende

Mit fortschreitender Krankheit verspannte sich ihr Körper. Fanny Elsner verkrampfte sich und verbiss sich manchmal in Gegenstände, die ihr in die Finger kamen. Manchmal erwischte sie trotzdem ein Kleidungsstück oder gar ein Körperteil einer Betreuenden. Diese versuchten die Pflege mit Elsner so zu gestalten, dass dies nicht vorkam. Man gab ihr einen Beissring in der Art, wie er auch bei zahnenden Kleinkindern verwendet wird. Bis zum eingangs beschriebenen Vorfall verletzte sie sich aber nie selbst – sondern lutschte nur an den Fingern oder leckte sich den Unterarm ab.

Selbstschutz bedeutet auch weniger Freiheit

Will man Fanny Elsner vor sich selber schützen, geht dies nicht ohne eine gewisse Einschränkung ihrer Freiheit. Allfällige Massnahmen, die zu treffen sind, müssen gut abgewogen werden. Das eine sind die pflegerischen Kniffe oder medizinischen Hilfen (Medikamente), die dafür sorgen können, dass sich Elsner nicht mehr wehtut. 

Über all dem stellen sich aber ethische Fragen. Es gilt, das Verhältnis zwischen Verminderung von Leid und der Einschränkung der Lebensqualität (die ja auch wieder Leid verursachen kann) sorgfältig abzuwägen. Vier Möglichkeiten bieten sich: Krampflösende und beruhigende Medikamente könnten für Entspannung sorgen. Ähnliche Resultate liessen sich durch verschiedenste Therapien erzielen. Ihre Bewegung könnte auch mit physischen Massnahmen eingeschränkt werden. Schliesslich könnte sie durch Aktivierung abgelenkt werden.

Versuche mit krampflösenden Medikamenten wurden abgebrochen, weil diese ihren Körper so stark lockerten, dass sie nicht mehr gehen konnte. Die Ethikgruppe der Sonnweid und das Betreuerteam entschieden in Absprache mit den Angehörigen, dass der Preis der Immobilität zu hoch ist.

Auch die Aktivierung bot keinen Ausweg: Fanny Elsner lebte in ihrer Welt und liess sich durch Spiele, Gespräche oder Anregungen nicht ablenken.

Der Bezug zu ihrem früheren Leben fehlte. Pferde, Hunde, Büroarbeit: All das weckte ihr Interesse nicht mehr. Sie nahm nicht teil an Gruppenspielen und dergleichen. Mit den Augen verfolgte sie zwar, was um sie herum geschah. Trotzdem war sie verkrampft und biss weiterhin in allerlei Gegenstände.

Sie gibt keinen Laut von sich

Erschwerend kam hinzu, dass Elsner weder Worte noch Laute von sich gab. Ihre Gesichtszüge waren starr, ihr Körper drückte keine Gefühle aus. Es war schwierig, eine Bewohnerin glücklich zu machen, die keine Rückmeldungen gab. Trotzdem versuchten die Betreuerinnen, ihr immer wieder Anregungen zu geben.

«In den eineinhalb Jahren, die sie bei uns war, hörte ich nur einmal einen Laut von ihr. Es war ein kaum wahrnehmbares Seufzen. Es gab aber viele Anzeichen dafür, dass sie alles verstand, was wir sagten.»

Betreuende

Temporäre Entspannung brachten Fussreflexzonenmassagen. Diese bekam sie regelmässig. Basales Ausstreichen, Wohlfühlmassagen und Bewegen von Kiefer, Hals, Armen und Beinen brachten auch Erleichterung. Mit fortschreitender Krankheit streckte Elsner auch im Bett ballerinenhaft die Beine und Füsse.

Nach Bewegungsübungen (Kinästetik) winkelte sie ihre Beine an und bewegte sie für einen Moment in jener Weise, in der sie angeregt worden waren. Leicht entkrampfend wirkten Aromen wie Sandelholz, Bergamotte, Basilikum oder Minze. Den gleichen Erfolg erzielte auch das Abspielen von leichter klassischer Musik. Oft bot man Fanny Elsner Fingerfood an. Sie kaute gerne auf Karotten, Sellerie, Brot oder dick geschnittenem Trockenfleisch.

Schutz durch Decke und Stofftiere

Auch nachdem sich Fanny Elsner schwer verletzt hatte, suchten ihre Hände den Kontakt zum Mund. Im Bett konnte dies mit einer Zewi Decke verhindert werden. Diese schränkt zwar die Bewegungsfreiheit ein, tut dies aber auf angenehmere Weise als eine klassische Fixierung.

Tagsüber verzichtete man auf derlei drastischen Massnahmen. Ein grosses Stofftier, das man in ihre Arme legte, schränkte die Reichweite so ein, dass die Hände den Mund nicht mehr erreichten. Indem man ihr Topfhandschuhe anzog, waren ihre Finger zusätzlich geschützt. Fortan kaute sie die robusten Handschuhe, ohne sich zu verletzen.

Gegen das Ende ihres Lebens, als sie bettlägerig war, wurde die Verkrampfung schlimmer und der Schmerz grösser. Schmerz- und Beruhigungsmittel linderten ihr Leiden. In der letzten Phase bekam sie Morphium.

Illustration Massimo Milano