«Ich gehe jetzt tanzen», sagt Sandra Kramer (Name von der Redaktion geändert) meist nachmittags um halb vier und zieht Schuhe und Jacke an. «Wohin gehen sie denn tanzen?», fragt die Betreuerin. «In den Coop, dort hat es Musik.» Dann macht sich Kramer auf den Weg zur Multimedia-Abteilung in der Coop-Filiale Wetzikon.
Sie zieht einen Kopfhörer über und bewegt sich im Rhythmus jener Musik, die gerade in den Hitparaden ist. Sie wiegt nicht nur, wie andere Kunden, ihren Kopf oder Oberkörper vor und zurück. Kramer tanzt anmutig, modern und ausdrucksstark: Sie geht in die Knie, rudert mit den Armen und dreht sich um die eigene Achse, singt mit.
Nimmt sie Drogen oder spinnt sie?
Manchmal tut sie es über eine Stunde lang und ist sehr glücklich dabei. Weil sie attraktiv und erst 56 ist, kommt niemand auf die Idee, dass sie eine Demenz haben könnte. «Die nimmt Drogen oder spinnt – oder beides zusammen», denken viele Kunden und Angestellte des Supermarktes.
Einige lachen, und andere schämen sich für die Frau. Umgekehrt bricht Kramer in lautes Lachen aus, wenn sie Menschen sieht, die nicht der Norm entsprechen. Ein gehbehinderter Mann auf der Strasse oder eine zitternde Frau im Garten der Sonnweid können langanhaltende Lachkrämpfe auslösen.
Demenz ist auch die Krankheit des Umfelds
Demenz ist weniger das Problem der Betroffenen als ihrer Mitmenschen: Im Fall von Sandra Kramer kommt dies zum Ausdruck. Als Sandra Kramer noch zu Hause lebte, verursachte sie mit ihrem Verhalten bei ihrer 23 Jahre älteren Lebenspartnerin Scham, Ärger und Aufregung. Die Partnerin konnte die Verhaltensauffälligkeiten weder nachvollziehen noch akzeptieren. Schliesslich war Kramer in dieser Partnerschaft jahrzehntelang die Person gewesen, die Entscheidungen traf und führte.
Weil Frau Kramer oft ausserhalb des Sonnweid-Areals unterwegs war, trug sie ein GPS-Gerät. So konnte sie innert Kürze geortet und zurückgebracht werden. In der Regel kehrte sie aber aus eigenen Stücken zurück. Kramer kam in ungewöhnlich frühem Krankheitsstadium in eine Wohngruppe der Sonnweid. Dort beteiligte sie sich anfangs fleissig am Haushalt. Sie kochte, rüstete Gemüse und räumte auf. Sie brauchte kaum Pflege oder Unterstützung im Alltag. «Wir mussten nur darauf achten, dass sie nicht immer die gleichen Kleider trug», sagt eine Betreuerin. «Wenn sie nicht wie abgemacht um sieben zum Abendessen erschien, suchten wir sie.»
Sandra Kramer lebte mit ihrer Partnerin in der Toskana und in Hamburg. Sie war eine gefragte Kunstmalerin und zeigte ihre expressiv-abstrakten Ölbilder und Aquarelle erfolgreich in Galerien. Sie spielte gut und gerne Klavier. Zu Beginn des letzten Jahrzehnts begann sich ihre Malerei zu verändern. Ihre Linien und Pinselstriche wurden kontrollierter, die Bilder ruhiger. Ans Klavier setzte sie sich nur noch, wenn sie ihre Freunde dazu aufforderten.
Fehleinkäufe und Teilnahme an unzähligen Wettbewerben
Kramer kaufte im Internet Dinge, die sie nicht brauchte. Sie spielte viel Lotto und nahm an unzähligen Preisausschreiben teil. Ihre Partnerin wunderte sich – und machte sich Sorgen. In immer kürzer werdenden Abständen reagierte die damals gut 50-Jährige mit Wut und Verzweiflung auf ihre Defizite.
Die Partnerin wurde von diesen Stimmungswechseln ebenso überrascht wie Sandra Kramer von dem Umstand, das etwas nicht nach ihren Vorstellungen funktionierte. Kramer hatte nämlich in ihrem Leben grosses Geschick bewiesen und viel Glück gehabt.
Ihr Vater war Kunsthandwerker, die Familie lebte in einem Ostschweizer Dorf. Als Jugendliche kam sie in Berührung mit der 68er-Bewegung, später mit der Frauenbewegung. In Zürich und Florenz studierte sie Kunstgeschichte. Die seltene Mischung aus Talent, Fleiss und Charisma brachte ihr Ansehen und Wohlstand. Kramer war intelligent, attraktiv, beliebt und kontaktfreudig – kein Wunder also, dass ihr viele Türen aufgingen und dass sie viele Menschen zu ihren Freunden zählen durfte.
Bald ging es nicht mehr zu Hause
Die beunruhigte und überforderte Partnerin meldete Sandra Kramer in einer deutschen Klinik zu einer Abklärung an. Dort stellte sich heraus, dass Kramer eine frontotemporale Demenz hatte. Bald war der Abbau so weit fortgeschritten, dass es zuhause «nicht mehr ging».
Zu Beginn ihres Aufenthaltes in der Sonnweid sagte Kramer oft, dass sie nicht bleiben würde. Schon am zweiten Tag kannte sie den Code der Haupttüre und verliess das Areal. Sie wollte zurück zu ihrer Partnerin, zurück in ihre Wohnung in Hamburg, in ihr Bauernhaus bei Siena. Nach wenigen Tagen hatte sie sich damit abgefunden, dass sie ein paar Wochen «zur Kur» in der Sonnweid bleiben würde. Von Sandra Kramers Nachmittagsbeschäftigung im Supermarkt erfuhren die Betreuenden erst, als eine Kollegin telefonierte, die dort einkaufte.
«Eure Bewohnerin tanzt hier, und die Mitarbeiter und Kunden lachen sie aus», meldete sie. Einen Tag später kam die Meldung, sie tanze jetzt in und vor der evangelischen Kirche. «Da wussten wir, dass wir etwas unternehmen mussten zum Schutz dieser Frau», sagt eine Betreuerin.
Lebensfreude und Schutz vor Blossstellung
Die Mitarbeitenden der Station gerieten in ein Dilemma. Einerseits gönnten sie Sandra Kramer diese Stunden der Lebensfreude. Andererseits fühlten sie sich dafür verantwortlich, sie vor diesen Blossstellungen zu schützen.
Eine Fallbesprechung ist in dieser Situation angebracht, damit die Problemstellung von verschiedenen Seiten her beleuchtet werden kann und die einzelnen Betreuenden entlastet werden. Der Ethiker war der Meinung, dass die Tänze in der Öffentlichkeit nicht entwürdigend seien, so lange die Passanten Sandra Kramer nicht direkt belästigten und nur aus der Distanz belächelten.
Aus der Fallbesprechung ergab sich folgende Strategie: Die Stationsleiterin besprach den Fall mit dem Filialleiter des Supermarktes. Die beiden vereinbarten, dass alle Mitarbeiter der Filiale informiert würden. Nachdem Kramer jeweils eine Stunde getanzt hat, stellen die Mitarbeiter nun die Musik ab und ermuntern Kramer dazu, wieder zurück in die Sonnweid zu gehen.
Wenn Kunden sich über die tanzende Frau lustig machen, werden sie von den Mitarbeitern aufgeklärt und zum Weitergehen aufgefordert. Die Sonnweid schickte den Nachbarn einen Brief, der über die Bewohnerin mit dem speziellen Verhalten aufklärte und um einen Anruf bat, falls es zu Problemen kommen würde.
Nicht mit den Defiziten konfrontieren
Nach einem Jahr in der Sonnweid hat sich Sandra Kramer bestens eingelebt. Der Schlüssel zu ihrem Glück war, sie nicht mehr mit ihren Defiziten zu konfrontieren. Den Laptop, den ihre Partnerin mitgebracht hat, benutzt sie nie. Auch das Piano fasst sie nicht an. Lieber blättert sie in Klatschheften oder schaut fern. Sie hat einen eigenen Fernseher, in dem sie Serien, Informations- und Klatschsendungen anschaut.
Gerne schaut sie auch Werbespots und bricht dabei immer wieder in lautes Gelächter aus. Kreuzworträtsel löst sie, indem sie auf den hinteren Seiten der Hefte die Lösungen nachschlägt und vorne ins Rätsel einträgt. Ab und zu zeichnet sie mit Ölkreide, aber nicht mehr mit den professionellen Ambitionen früherer Jahre.
In die Bewegungsgruppe oder zum Turnen geht sie nicht mehr, weil sie die anderen Teilnehmer lauthals auslachte. «Sie hat jetzt eine schöne angemessene Struktur am inneren Rand der Normaliät», sagt eine Betreuerin. «Das ist doch sensationell, wenn du aufwachst und machen kannst, was du willst! Ich bin sehr froh, dass sie bei uns auf der Wohngruppe ist. Sie ist eine hilfsbereite und lustige Person.»