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Unser Törn ins Vergessen (17)

Avanti diletanti!

Bernd Martens und Birgit Rabisch.

Die Passion für Literatur und politischen Wandel führte Bernd Martens und Birgit Rabisch vor gut 40 Jahren zusammen. Bild privat

Bernd spulte lustlos seine Arbeitstage als Ingenieur ab – bis ihn Ende der 1970er-Jahre die Muse küsste. Er fing an, Gedichte zu schreiben und mit Pappschildern zu demonstrieren.

27. Oktober 2022

Ich rufe meine Gedanken zurück zu dir, zurück zu dem jungen Mann, der mit dem Geld, das er im Pub verdient hat, im Frühjahr zu einer Rundreise durch England, Wales und Schottland aufbricht. Rucksack gesattelt, an die Straße gestellt und Daumen raus. Mehrere Kästen mit Dias vermitteln mir ein paar Eindrücke von deiner Tour. Vor allem die schottische Felsküste hatte es dir offenbar angetan. Von ihr gibt es die meisten Fotos. Und von Menschen, denen du begegnet bist, mit denen du einen Teil des Weges gemeinsam gegangen bist, die dich in ihr Haus eingeladen oder zum Hummerfang mit auf den See genommen haben.

Als der Winter nahte, hast du dich um eine Stelle als Ingenieur bei Bechtle, einem international tätigen Konzern beworben und sie dank deiner mittlerweile stark verbesserten Englischkenntnisse auch ergattert. Wie lange deine Tätigkeit dort dauerte, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass sie dir heute deine monatliche Rente um ca. 40 Euro aufstockt, die regelmäßig von The Pension Service überwiesen werden.

👉 Hier kannst du alle Folgen von Birgit Rabischs Logsbuch »Unser Törn ins Vergessen« nachlesen

Mitte der Siebziger trieb es dich wieder zurück nach Deutschland, wo du eine Anstellung bei einem Ingenieurbüro in Hamburg-Eimsbüttel annahmst. In diese Zeit fällt der Anfang eines erstaunlichen Wandels in deinem Leben, ohne den wir uns nie kennengelernt hätten. Nach Feierabend nahmst du einen Bleistift zur Hand und schriebst auf die Rückseite von Endlospapier aus dem Firmen-Computer. Doch du schriebst keine Zahlen, keine Berechnungen; du schriebst Gedichte.

28. Oktober 2022

Woher kam das plötzlich? Was hat in dir geschlummert? Das konntest du dir und mir nie erklären. Du hast aber als Kind schon gern gelesen. Als Jugendlicher war Das Totenschiff von Traven dein Lieblingsbuch. Später wurden Ringelnatz und Brecht zu deinen Leitsternen. An einem einsamen Abend in deiner Zweizimmerwohnung, nach einem Feierabendbier, war es plötzlich da: das Bedürfnis, deinen Erlebnissen, deinen Gedanken und Gefühlen eine Form zu geben. 


Lebenslauf

Der Fortschritt bringt

neue Maschinen

für bessere Produkte

immer mehr

und noch schneller

mein Leben läuft mir davon

bin gerädert

haltet die Fließbänder an

ich kann das Glück nicht fassen


Sperre

Sie drücken sich

an Tasten aus

ernst und befehlend

programmieren sie Daten

manchmal schwatzen wir

nett

und nicken mit dem Kopf

auch dann verstehe ich sie nicht mehr


Das sind zwei prototypische Gedichte von dir aus dieser Zeit. Dein Unbehagen an der Art von Arbeitswelt, in der du acht Stunden und mehr am Tag verbrachtest, ist schon deutlich spürbar. Immer höher, schneller weiter, immer effizienter, gewinnbringender, umweltzerstörender – dabei wolltest du nicht länger mitmachen. Als das Ingenieurbüro, für das du gearbeitet hast, von einem großen Konzern geschluckt wurde und du mitsamt einem Dutzend Kollegen entlassen wurdest, warst du nicht etwa bestürzt, sondern erleichtert. Eine stattliche Abfindung erlaubte es dir, nicht sofort wieder an den Erwerb von Geld denken zu müssen. Du wolltest dir Zeit zum Nachdenken nehmen. Gab es nichts Wichtigeres im Leben zu erwerben als Geld?

31. Oktober 2022

Eines schönen Sommertages im Jahre 1979 ereilte dich der Ruf. Du trankst gerade deinen unverzichtbaren Morgenkaffee, als im NDR die dir unbekannte Lyrikerin Frederike Frei alle Schreibinteressierten in Hamburg zu einer Dichterdemo aufrief. Dichterdemo? Was sollte das sein und wofür oder wogegen? Hörte sich verrückt an, aber verrücken wolltest du dein Leben und schreibinteressiert, ja, das warst du. Spontan machtest du dich auf zum angegebenen Treffpunkt, wo sich nach und nach ein Grüppchen Demowilliger versammelte.

Einige trugen selbstgemachte Pappschilder mit Gedichten, mit Sprüchen, mit Haikus um den Hals. Frederike Frei begrüßte alle enthusiastisch, verkündete durchs Megaphon, es sei höchste Zeit, aus dem Alltag Literatur zu machen und Literatur in den Alltag zu tragen und mit dem Schlachtruf Avanti Diletanti! setzte sich die Dichterdemo in Bewegung. Passanten, die stehenblieben, wurden mit dem unvermeidlichen Kalauer Komm dichter, Dichter! zur Teilnahme an der Demo eingeladen.

So richtig wusste keiner, was das Ganze sollte, aber es war ein schöner Julitag, Frederike Frei rief alle Alltagschreiber der Welt auf, sich zu vereinigen, du blicktest in lachende Gesichter und fühltest dich wohl. Hier ging es endlich einmal nicht um Effizienz und Profit, hier ging es um das Sagbare und das Schreibbare und danach suchtest du. Als Frederike Frei am Ende der Demo die Losung verkündete Literatur ist Post – Post von einem Menschen an andere und vorschlug ein Literaturpostamt zu gründen, folgtest du willig ihren Lockungen.


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.

> Hier kannst du alle Folgen von Birgit Rabischs Logsbuch »Unser Törn ins Vergessen« nachlesen

> Hier geht's zur Website der Schriftstellerin Birgit Rabisch